Mainz Ein rechtlich delikater Fall

Mainz · So zotig und ungeschliffen der Text, so feinsinnig die juristische Bewertung - ein Thema für kluge Staatsrechtler.

Für Kanzlerin Angela Merkel gab es politisch im Fall Jan Böhmermann nichts zu gewinnen. Doch die Frage, ob das Schmähgedicht des ZDF-Moderators durch die Meinungsfreiheit nach Artikel fünf des Grundgesetzes gedeckt ist oder eine plumpe Beleidigung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan darstellt, führt zu raffinierten juristischen Überlegungen.

Die Staatsrechtler sind dabei überwiegend der Meinung, dass die Kanzlerin durch die Voraussetzungen des Strafparagrafen 103, der Beleidigungen ausländischer Staatsoberhäupter besonders ahndet, einen großen Ermessensspielraum hatte. "Die Bundesregierung ist keinesfalls nur Notarin", sagte der Berliner Staatsrechtler Ulrich Battis der "Berliner Zeitung". Letztlich sei es um die Frage gegangen, ob die Meinungsfreiheit hinter der staatlichen Räson zurückstehen müsse. Für Battis ist die Sache klar: Angesichts der Bedeutung, die bei uns die Meinungsfreiheit genießt, hätte Merkel die Strafverfolgung nicht zulassen dürfen. Die Kanzlerin hätte sich besser noch einmal förmlich distanzieren und den Vorfall bedauern sollen, aber sonst das Ansinnen der Türken ablehnen müssen.

Auch der Göttinger Staatsrechtler Alexander Thiele meint: "Als Vorkämpferin für die Meinungsfreiheit hat sich die Bundeskanzlerin eher nicht gezeigt. Wenn sie diesem Recht eindeutig Vorrang eingeräumt hätte, hätte sie die Ermächtigung für die Strafverfolgung besser nicht aussprechen sollen." Trotzdem sei die Zulassung des Strafverfahrens rechtlich einwandfrei. "Jetzt ist die Justiz dran, wie es sich in einem Rechtsstaat gehört." Das Ganze sei schließlich ein "juristischer Grenzfall". Thiele: "Ob es Satire oder Beleidigung ist, lässt sich für die Bundesregierung nicht eindeutig feststellen."

Als unglücklich sieht der Rechtsprofessor die Äußerung der Kanzlerin im Vorfeld der Entscheidung an. Sie hatte nach einem Gespräch mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu den Text als verletzend bezeichnet. "Es war problematisch, dass sich die Kanzlerin im Vorfeld geäußert hat und sich vom Inhalt der Schmähkritik distanziert hat. So entsteht der unzulässige Eindruck, dass die Äußerung ihre Entscheidung beeinflusst haben könnte."

Den Paragrafen 103, der jetzt abgeschafft werden soll, bezeichnete Thiele als seltsam, aber durchaus mit der Gewaltenteilung vereinbar: "In delikaten Dingen sollte auch eine Bundesregierung einen Handlungsspielraum haben, ob sie eine Klage zulässt oder nicht." Doch das dürfte bald Vergangenheit sein.

Die große Stunde dürfte jetzt für den Verteidiger von ZDF-Moderator Böhmermann schlagen. Sollte die Staatsanwaltschaft den Journalisten wegen dessen Schmähgedicht tatsächlich vor ein Gericht bringen, könnte dessen Anwalt auf die Unterdrückung der Meinungsfreiheit in der Türkei verweisen, auf die Verhaftung von Journalisten oder das repressive Vorgehen gegen unliebsame Künstler. Das würde die mögliche Grenzübertretung Böhmermanns dann in einem anderen Licht erscheinen lassen.

(kes)
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