Istanbul "Die Türkei wird zum Hotel-Staat"

Istanbul · Kritiker des Abkommens bezweifeln, dass die Europäische Union ihre Zusagen einhält.

Auch nach der Grundsatzeinigung von Brüssel in der Flüchtlingsfrage geht der Alltag für Gegner des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan weiter. Gestern wurde der Journalist Baris Ince wegen Präsidentenbeleidigung zu 21 Monaten Haft verurteilt. Europa solle sich schämen, mit der Türkei einen Deal ausgehandelt zu haben und gleichzeitig die Augen vor dem Druck der Regierung auf Kritiker zu ignorieren, schimpfte der Kolumnist Yalcin Dogan in einem Beitrag für die Internetplattform T24. Dogan hält die Abmachungen von Brüssel für reine politische Bestechung: "Solange ihr die Flüchtlinge behaltet, könnt ihr innenpolitisch machen, was ihr wollt", lautet die Grundidee.

Nur wenige Tage vor dem Gipfel hatte die türkische Regierung die Oppositionszeitung "Zaman" übernommen und in ein regierungsfreundliches Jubelblatt verwandelt. Am Tag des Gipfels selbst stellten die Behörden die private Nachrichtenagentur Cihan unter staatliche Kontrolle. Marc Pierini, ehemaliger EU-Botschafter in Ankara, reagierte ebenfalls misstrauisch. Wesentliche Details fehlten noch, schrieb er auf Twitter - und stellte die Frage, wie die EU gegenüber der Türkei mit den Themen Rechtsstaat und Medien umgehen wolle. Tatsächlich ist noch vieles unklar. Die Ministerpräsidenten der Türkei und Griechenlands, Ahmet Davutoglu und Alexis Tsipras, trafen sich gestern in Izmir, um die Umsetzung des Plans zu besprechen. Eren Erdem, ein Außenpolitiker der Oppositionspartei CHP, sagte unserer Redaktion, die EU unterliege der Illusion, dass mit der geplanten Rückführung von Flüchtlingen aus Griechenland in die Türkei das Problem gelöst sei: Die Türkei werde zu einem "Hotel-Staat" gemacht. Doch die Migrationsbewegung hänge mit den Konflikten und dem Chaos im Nahen Osten zusammen, die von der EU nicht angegangen würden. "Noch gibt es in Europa keine Flüchtlinge aus Jordanien oder dem Jemen, aber vielleicht kommt das noch."

Auch der Migrationsforscher Murat Erdogan von der Hacettepe-Universität in Ankara ist skeptisch. Die Türkei würde viele nicht-syrische Flüchtlinge ins Land zurückholen, ohne dass geklärt sei, was mit den Menschen geschieht. Da die Türkei keine Flüchtlinge aus Nahost oder Zentralasien anerkennt, müssten sich Afghanen oder Iraker bei der Uno als Asylbewerber melden und auf die Aufnahme durch ein Drittland hoffen: "Derzeit muss man bis zum Jahr 2023 warten", sagt Erdogan. Dass die Türkei die afghanischen Flüchtlinge in ihr Heimatland zurückschicken kann, hält er für unwahrscheinlich. Die von der Türkei erhoffte Gegenleistung der Europäer - die Aufhebung des Visazwangs im Juni - wird von Kritikern in Istanbul ebenfalls in Zweifel gezogen.

Am Ende werde die EU neue Vorwände finden, um die Reisefreiheit zu verschieben, ist Europa-Experte Cengiz Aktar sicher. Doch das würde das Aus der von EU und Türkei angestrebten Vereinbarung bedeuten: Ankara hat bereits angekündigt, dass die Türkei die Rücknahme von Flüchtlingen stoppen wird, wenn die EU beim Thema Visa ihre Zusagen nicht einhalten sollte. Nach Meinung von Gerald Knaus von der Denkfabrik ESI übersehen die Kritiker der Brüsseler Grundsatzvereinbarung jedoch eine wichtige Tatsache: Die Türkei habe eine strategische Entscheidung getroffen, den Kurs von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu unterstützen, sagt Knaus. "Es war ein wichtiges und gutes Signal, dass der Vorschlag von der Türkei kam." Die Türkei habe ein starkes Interesse daran, dass sich in der EU nicht die Abschottungspolitik Ungarns durchsetze, meint Knaus.

(RP)
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