Analyse Die Suche nach der Bildungsrepublik

Berlin · Deutschland steht in der jüngsten OECD-Bildungsstudie gut da. Trotzdem bleiben viele Defizite, die nach Ansicht der Forscher seit Jahren nicht bekämpft werden. Geben die Parteien im Wahlkampf die richtigen Antworten?

Analyse: Die Suche nach der Bildungsrepublik
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Vor fast zehn Jahren rief Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erstmals die "Bildungsrepublik Deutschland" aus. Anlass war 2008 ein alarmierender Bericht der Kultusminister der Länder über den Zustand des deutschen Bildungssystems. Zehntausende Schüler verließen demnach ihre Klassen ohne Abschluss, zu wenig junge Menschen begannen ein Studium, und die Bildungsausgaben - gemessen an der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes - waren rückläufig. Deutschland sollte wieder Spitze im internationalen Vergleich werden, so das damalige Vorhaben. Seitdem hat sich einiges getan auf dem Weg zur "Bildungsrepublik", vieles liegt aber weiterhin brach.

Das offenbart die jüngste Studie der Industrieländer-Organisation OECD über die Bildungssysteme in den 35 führenden Industriestaaten der Welt. Demnach kann Deutschland bei den sogenannten Mint-Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik punkten. Der Anteil der Absolventen in diesen Studienfächern liegt in der Bundesrepublik bei 37 Prozent und damit so hoch wie in keinem anderen Industriestaat. Außerdem stieg der Anteil der Studienanfänger eines Jahrgangs zwischen 2005 und 2015 von 43 auf 63 Prozent. Auch diese Steigerung ist der Spitzenwert in der diesjährigen Vergleichsstudie, die die OECD gestern in Berlin vorstellte. Zudem funktioniert der Übergang von Ausbildung in die Berufstätigkeit gut; Akademiker und Menschen mit einer höheren beruflichen Ausbildung, etwa einem Meister, haben den Daten zufolge fast eine Jobgarantie. Ihre Beschäftigtenquote liegt jeweils bei knapp 90 Prozent.

Was die Experten außerdem freut: Fast alle drei- bis fünfjährigen Kinder in Deutschland gehen in die Kita und erhalten so institutionelle Frühbildung. 97 Prozent der Vierjährigen und 98 Prozent der Fünfjähren nehmen an Vorschulbildung teil. Die Werte könnten also kaum höher sein, die positiven Effekte für die weitere Schullaufbahn sind Konsens unter Bildungsforschern. Ist Deutschland also bereits die "Bildungsrepublik", die die Kanzlerin 2008 eingefordert hatte? Mitnichten.

Denn weiterhin gibt es große Ungerechtigkeiten im Bildungssystem. So schlossen beispielsweise nur 14 Prozent der 30- bis 44-Jährigen aus Nichtakademikerfamilien selbst ein Hochschulstudium ab. Damit hat sich dieser Wert im Generationenvergleich kaum verbessert. Nachholbedarf gibt es außerdem bei der Frauenquote in den viel gelobten Mint-Fächern. Weniger als ein Drittel der Studienanfänger sind weiblich. Zum Vergleich: Im Fach Pädagogik liegt der Anteil der Frauen bei 80 Prozent. Hinzu kommt, dass noch zu viele Studenten ihre Ausbildung abbrechen. Auch das beklagen die OECD-Experten seit Jahren. Ein Kernproblem ist aber die Finanzierung: Trotz guter Konjunktur und sprudelnder Steuerquellen gibt der deutsche Staat deutlich weniger Geld für Bildung aus als viele andere Industrieländer. Durchschnittlich investieren die OECD-Staaten 5,2 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Bildung, die Bundesrepublik kommt gerade einmal auf 4,3 Prozent. Seit Jahren bemängelt das die Organisation in ihren Studien, passiert ist kaum etwas.

Bei der Vorstellung der Studie sah sich Heino von Meyer, Leiter des Berliner OECD-Zentrums, denn auch genötigt, diesen Mangel in konkrete Summen zu fassen. Um einen Prozentpunkt vom BIP mehr in Bildung zu investieren, seien 30 Milliarden Euro nötig, sagte er. Pro Jahr, versteht sich.

Diese ungeheure Summe sieht keines der Programme der derzeit wahlkämpfenden Parteien vor. SPD und Grüne wollen mit am meisten investieren, bleiben aber mit ihren Ankündigungen noch darunter. Zwölf Milliarden Euro ist etwa das erdachte Paket der Sozialdemokraten schwer - allerdings über mehrere Jahre gestreckt. Die OECD verlangt allerdings auch nicht, dass der Bund die gesamte Last schultern soll. Auch die Bundesländer sind gefragt, daneben private Akteure. Also etwa diejenigen Unternehmen, die ausbilden.

Wer aber wie die OECD annimmt, dass künftig das Bildungssystem durch Entwicklungen wie eine zunehmende Globalisierung, Digitalisierung und Migration vor Veränderungen und Problemen steht, muss von der Politik deutlich mehr Anstrengungen erwarten. Die Zahl der Lehrer reicht beispielsweise längst nicht aus, um steigenden Schülerzahlen gerecht zu werden. Viele Lehrkräfte werden in den kommenden Jahren altersbedingt ausscheiden. Nur Italien hat eine ältere Lehrerschaft.

Und gerade im Grundschulbereich, so die Mahnung nicht nur der OECD, muss Deutschland attraktiver werden. Das zeigt sich beispielsweise an den Lehrergehältern, die zwar im internationalen Vergleich recht üppig ausfallen, zwischen den Schulstufen jedoch Diskrepanzen aufweisen. So bekommt ein deutscher Lehrer laut OECD im Primarbereich umgerechnet gut 54.000 US-Dollar Einstiegsgehalt, im Gymnasialbereich sind es aber bereits mehr als 61.000 Dollar. Der OECD-Schnitt liegt jeweils bei gut 30.000 Dollar pro Jahr.

Aber auch wenn sich kaum eine Partei die bessere Bezahlung von Lehrern ins Programm geschrieben hat, stimmen die Ideen bei einigen doch mit den Forderungen der OECD überein. So wollen fast alle Parteien die Zahl der Lehrer erhöhen - ohne meist ein konkretes Rezept zu nennen - und setzen sich teils auch für mehr Sozialarbeit an den Schulen ein. Für OECD-Experte von Meyer ist hingegen klar: Deutschland muss wieder mehr investieren in Bildung. Und wenn es das tut, dann in die Grundschulen, um möglichst allen Schülern einen guten Weg in die höheren Schulstufen zu ermöglichen. Das allerdings ist in Deutschland - anders als in vielen anderen Industrieländern - kompliziert: Der Bund darf seine Mittel nur sehr eingeschränkt an die Länder weitergeben. Sie haben die Hoheit über die Möchtegern-Bildungsrepublik.

(jd)
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