Analyse Die Macht der großen Rede

Düsseldorf · Dem Bundespräsidenten von Weizsäcker gelang 1985 eine große Rede, den Kanzlern Kohl und Schröder 1989 beziehungsweise 2002/2003. Bei Merkel und Gauck bleibt allein die Hoffnung, dass da etwa zu "Flüchtlingen" und "Europa" doch noch etwas kommen möge.

Analyse: Die Macht der großen Rede
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Man muss kein Cicero, kein großer politischer Redner sein, um dennoch eine große Rede halten zu können. Es könnte demnach theoretisch die sich einprägende Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel, etwa zur Zukunft Europas oder - hochaktuell - zur Jahrzehnt-Aufgabe der Integration von Millionen Flüchtlingen und dem lodernden nationalistischen Hass, noch gehalten werden. Schließlich gilt Merkel als ein intelligentes, schneller als andere lernendes System auf zwei Beinen. Nebenbei: Auch den Bundespräsidenten Joachim Gauck, von Staats wegen berufen zu Goldenen Sätzen, würde niemand aufhalten, ergriffe er das große Wort zu den genannten großen Themen der deutschen und kontinentalen Politik.

Bundeskanzler Helmut Kohl (1982 bis 1998) ist ein heute wegen seiner Krankheit kein Beispiel dafür, dass eine Führungspersönlichkeit rhetorisch über sich hinauswachsen kann, wenn die (historische) Stunde schlägt. Wenige Tage vor dem Weihnachtsfest 1989 gelang Kohl vor der noch in Trümmern liegenden Frauenkirche in Dresden die beste Rede seiner vielen Jahrzehnte als Spitzenpolitiker in Mainz und Bonn. Historiker empfinden Kohls Auftritt vor einer enthusiasmierten, fahnenschwenkenden ostdeutschen Menschenmenge im Wiedervereinigungs-Fieber ebenbürtig mit der berühmten, damals schnell auf Schallplatten gepressten Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker (1984 bis 1994) zur 40. Wiederkehr des Kriegsendes am 8. Mai 1945. Weizsäcker sagte 1985, was endlich vor der deutschen und internationalen Öffentlichkeit gesagt werden musste - dass eben dieser 8. Mai 1945 für die Deutschen ein Tag der Niederlage und der Befreiung zugleich gewesen sei.

Der Bundespräsident hatte brillant formuliert. Bundeskanzler Kohl, der an jenem denkwürdigen 19. Dezember 1989 noch nicht als "Kanzler der Einheit" in die Walhalla eingegangen war, redete nach der Vorgabe Konrad Adenauers: kompliziert denken, einfach sprechen. Kohl witterte die national aufgeheizte Stimmung in Dresden, es wehte ein Hauch von "Deutschland über alles" in der Abendluft. Moskau, Washington, London und Paris waren alarmiert: Was würde aus den beiden deutschen Staaten? Zerstört der keimende Deutschland-Virus am Ende die europäische Friedensordnung? Kohl gelang es als Fleisch gewordener deutschen Entwarnung, die sich abzeichnende Einheit der Nation zu benennen und zugleich die Landsleute zu Vernunft, Maß und Mitte zu mahnen, weil das "Haus Deutschland nur unter einem europäischen Dach" gebaut werden dürfe. Eine aufmunternde Rede zum Selbstbestimmungsrecht der Deutschen, gepolstert durch eine friedliche Botschaft an die Welt - ein Meisterwerk eines eigentlich rhetorisch nicht Hochbegabten.

Führungskunst durch Reden. Das liegt anscheinend Angela Merkel nicht. Ja, bei ihrer Neujahrsansprache hat sie zur islamophob und nationalistisch eingefärbten Pegida-Bewegung klare Worte der Kritik gefunden und für viele überraschend deutlich davor gewarnt, bei "Pegida" mitzumachen. Gestern jedoch fiel wieder ein verstörender Merkel-Satz, als sie beim Besuch in Duisburgs Problemzone Marxloh einem Geistlichen die Frage stellte: "Was würden Sie an meiner Stelle tun?" Dahinter steckt die modische "Kultur des Zuhörens", die ihr womöglich wuselnde Berliner Marketing-Gurus als politischen PR-Kniff einreden. Nur, vom politischen Willen zur Führung zeugt die Kanzlerinnen -Frage nicht. Sie erinnert an den fabelhaften Spott des französischen Außenministers Charles Maurice de Talleyrand: "Da vorne läuft mein Volk. Ich muss ihm hinterher, schließlich bin ich sein Führer."

Politische Führungskunst durch Reden bewies Merkels direkter Vorgänger Gerhard Schröder. Unvergessen ist Schröders im Stil zwar rüpelhaftes, aber in der Sache richtiges Nein Deutschlands zum Irak-Abenteuer des US-Präsidenten George W. Bush und dessen Vize Richard Cheney. Auch Schröders große Bundestags-Rede von 2003 zur Begründung der für Deutschlands Wirtschaft und Sozialgefüge lebensnotwendigen Reform "Agenda 2010" gehört zu den Exempeln von Regieren durch Führen statt Hinterher-Hoppeln.

Manchmal prägen sich auch Schlagwörter oder Begriffe von Spitzenpolitikern ins Gedächtnis der Nation. So etwa die kernige Forderung Schröders nach einem "Aufstand der Anständigen", nachdem es im Jahr 2000 in Düsseldorf einen Brandanschlag auf ein jüdisches Gotteshaus gegeben hatte. Auch der nordrhein-westfälische Ministerpräsident und spätere Bundespräsident Johannes Rau traf mit unzähligen Reden nicht selten den genau richtigen Ton. Rau war ein Meister der sprachlichen Nuancierung und auch des ehrlichen Mitgefühls, etwa als politische Mordgesellen 1993 in Solingen das Haus einer türkischen Familie in Brand gesetzt hatten.

Wo bleibt also die politisch-historische Bekenntnis-Rede zu Europa, die der Ehrenbürger Europas, Kohl, nicht mehr halten kann und die dessen legendärer Außenminister Hans-Dietrich Genscher (88) endlich hören will? Wann ergreifen Merkel und Gauck gegen erneut brüllenden Nazi-Jargon das Wort, so dass man es in der ganzen Welt hört? Man muss nicht sprachlich auf Till-Schweiger-Niveau sinken und wie Sigmar Gabriel von "Pack" sprechen. Die politischen Führer einer Kulturnation sollten sich entsprechend artikulieren können.

(mc)
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