Analyse Die grüne Qual der Wahl

Berlin · Die niedersächsische Fraktionschefin Anja Piel, eine Vertreterin des linken Flügels, kandidiert für den Grünen-Vorsitz. Damit zeichnet sich eine weitere Richtungsentscheidung auf dem Parteitag Ende Januar ab.

Lange haben die Linken bei den Grünen nach einer Frau gesucht, die sich den Parteivorsitz zutraut und die glücklose Simone Peter ersetzen könnte. Viele, die von den Scouts gefragt wurden, sollen abgewunken haben. Doch gerade rechtzeitig, drei Wochen vor dem entscheidenden Bundesparteitag am 26. und 27. Januar in Hannover, sind sie endlich fündig geworden: Die niedersächsische Fraktionschefin Anja Piel hat sich zur Kandidatur durchgerungen. Die bisherige Parteivorsitzende Peter verzichtete gleichzeitig auf ihre Kandidatur, weil sie wusste, dass sie nach folgeschweren Fehleinschätzungen - etwa nach der zweiten Kölner Silvesternacht, als sie sich zu einem viel zu frühen Zeitpunkt kritisch über den Einsatz der Polizeibeamten äußerte - kaum eine Chance gehabt hätte, wiedergewählt zu werden.

Piels Kandidatur macht die Neuaufstellung der Grünen richtig spannend. Denn die linksgerichtete, unprätentiöse und bodenständige 52-Jährige tritt gegen Annalena Baerbock an, die zwar mit ihren 37 Jahren noch jung ist, aber in der Partei bereits einen Ruf wie Donnerhall besitzt. Die Wahl-Brandenburgerin, die den pragmatischeren Realo-Flügel vertritt, ist in den vergangenen Jahren mehrfach mit mutigen Interventionen aufgefallen. So war sie maßgeblich beteiligt, als die Präambel des Parteiprogramms umgeschrieben wurde, weil der Vorschlag der Parteiführung zu wenig pro-europäisch gewesen war.

Sollte Baerbock dieses Duell gewinnen - was angesichts des besseren innerparteilichen Standings der Energieexpertin wahrscheinlich ist -, dann demonstrieren die Grünen damit auch, dass ihnen eine schlagkräftige personelle Neuaufstellung wichtiger ist als die traditionelle Flügellogik. Denn auch der bisher einzige männliche Kandidat für die Parteispitze, Schleswig-Holsteins charismatischer Umweltminister Robert Habeck, ist ein Vertreter des mittig ausgerichteten Realo-Flügels, wenngleich Habeck alles dafür tut, diesen Stallgeruch loszuwerden. Doch mit dem Duo Habeck/Baerbock würden künftig zwei Realo-Vertreter die Doppelspitze stellen und nicht wie bisher je ein Vertreter der Flügel - ein echtes Novum. Die Flügelarithmetik sei den Parteifunktionären in Berlin wichtiger als den Delegierten auf Parteitagen, ist in Berliner Fraktionskreisen zu hören. Nach der Flügellogik würden sich allenfalls 30 Prozent der Parteitagsdelegierten entscheiden. 70 Prozent würden dagegen einfach diejenige Kandidatin wählen, die sie für die bessere hielten. Die eloquente Baerbock, die auch Mitglied im 14-köpfigen Sondierungsteam bei den Jamaika-Verhandlungen in Berlin war, hat hier wohl die besseren Karten. Zumal der bedächtigen Piel anhaftet, dass sie den spektakulären Parteiaustritt der niedersächsischen Grünen-Abgeordneten Elke Twesten und deren Übertritt zur CDU nicht vorausgesehen hat, der das Aus für die rot-grüne Landesregierung bedeutete. Bei der späteren Landtagswahl verloren die Grünen dann fünf Prozentpunkte.

Dennoch ist Anja Piel auch nicht völlig chancenlos gegen die Brandenburger Bundestagsabgeordnete Baerbock. Wie das gehen kann, deutete sie in ihrem Bewerbungsschreiben an, das sich zwischen den Zeilen wie eine Kampfansage an Baerbock liest. "Wollen wir mehr sein als ein Angebot für diejenigen, die auf Klima und Umweltschutz setzen? Glauben wir daran, dass wir mit unseren Ideen von Umverteilung und Gerechtigkeit eine linke Alternative sind? Oder verstehen wir uns als Partei der Mitte, wenn Debatten nach rechts abdriften?", fragt Piel. Baerbock unterstellte sie damit indirekt eine zu weitgehende Kompromissbereitschaft vor allem in sozialpolitischen Fragen.

Damit wird die Vorstandswahl zu einer Richtungsentscheidung, die in der ewigen Auseinandersetzung der Parteiflügel ihren Niederschlag findet. Anton Hofreiter, der linke Chef der Bundestagsfraktion, nahm Anja Piels Ball auf. "Ich freue mich über die Kandidatur von Anja. Denn sie steht für ein klares Profil der Grünen als Partei der Gerechtigkeit", sagte er. "Und gerade wenn wir als Grüne wachsen wollen, müssen wir verschiedene Milieus ansprechen und uns breit aufstellen." Auch Katja Dörner, die aus Nordrhein-Westfalen stammende stellvertretende Fraktionsvorsitzende, ebenfalls eine Vertreterin des linken Flügels, sagte: "Ich finde die Kandidatur von Anja Piel spannend, insbesondere weil sie das sozial- und gesellschaftspolitische Profil der Grünen an der Spitze schärfen würde."

Piels Konkurrentin nimmt es dagegen sportlich. "Wir sind eine bunte Partei mit vielen starken Leuten. Eine Wahl wird erst spannend durch Auswahl. Das stärkt unsere innerparteiliche Demokratie", sagt Annalena Baerbock. Wichtig sei, dass die Grünen "gemeinsam in diesen stürmischen Zeiten mit voller Kraft für mehr Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit und eine offene Gesellschaft in Europa kämpfen."

Zu neuer Stärke dürfte die Partei allerdings auch nur dann finden, wenn sie eine vernünftige Lösung für Robert Habeck erreicht, der Cem Özdemir an der Parteispitze ablösen will und soll. Denn Habeck möchte sein Ministeramt in Kiel noch für eine Übergangszeit von etwa einem Jahr behalten. Die Satzung der Grünen verbietet es aber, dass einer Parteichef wird und gleichzeitig noch Minister ist. Für den 48-Jährigen muss also eine "Lex Habeck" geschaffen werden: Mindestens für eine Übergangszeit müssen die Delegierten ihm die Ämterdoppelung erlauben. Dass der Parteitag Habeck mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit ein ganzes Jahr Zeit gibt, gilt als ausgeschlossen. Allenfalls ein halbes Jahr erscheint realistisch. Oder aber man überlässt diese Entscheidung den Parteimitgliedern in einer Urabstimmung. Habeck wäre dann zwar schon gewählt, aber bis zum Ende der Urabstimmung noch nicht legitimiert. Ein Schwebezustand, der nicht gerade für neue Stärke spräche.

(mar)
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