Essen Die Folgen der Energiewende für NRW

Essen · Deutschlands wichtigster Industriestandort ist von der Energiepolitik besonders betroffen: Fast ein Drittel des deutschen Stroms wird hier produziert und verbraucht. Der Atom-Ausstieg ist für NRW ein zweischneidiges Schwert: Die Industrie fürchtet steigende Strompreise, hofft aber auch auf neue Jobs beim Ausbau von Wind- und Solarkraft.

Wenn von seinen 360 "Kindern" eins aus der Reihe tanzt, kennt Roman Düssel kein Halten mehr. "Das regt mich innerlich auf", sagt der 28-Jährige, "da muss dann manchmal auch viel Strom dran." Zur Not auch am Wochenende. Oder mitten in der Nacht. Denn per Internet kann Düssel seinen 360 Kindern von jedem Ort auf der Welt auf die Finger schauen: den 360 Schmelzöfen im Essener Werk der Trimet AG, in denen der größte deutsche Aluminiumproduzent pro Jahr eine halbe Million Tonnen produziert.

Dafür braucht Düssel Strom. Sehr viel Strom. So viel Strom, wie sonst eine Stadt mit 500 000 Einwohnern verbraucht: Im vergangenen Jahr standen unter der Trimet-Stromrechnung 250 Millionen Euro. Als Prozessingenieur muss er dafür sorgen, dass es nicht noch mehr wird: das komplizierte Räderwerk aus Mechanik und Chemie so präzise steuern, dass die Temperatur im Bauch jedes seiner 360 Kinder stets bei exakt 960 Grad Celsius liegt. "Wenn irgendein Detail aus der Balance gerät, muss ich mit meinem Team notfalls nachheizen. Und das wird teuer", erklärt Düssel.

Aber so sehr der Ingenieur sich auch anstrengt – gegen die Energiewende kann auch er nicht ansparen: Der im vergangenen Sommer beschlossene Ersatz der Atomkraft durch grüne Energie wie Wind- und Solarstrom wird die Preise für Industriestrom nach Berechnungen der Bundesnetzagentur um bis zu acht Prozent steigen lassen. Was das bedeutet, rechnet Düssels Chef Martin Iffert vor: "Wenn der Strompreis um einen Cent steigt, kostet uns das 40 bis 50 Millionen Euro pro Jahr", sagt der Trimet-Vorstandschef. Im letzten Geschäftsjahr hat Trimet 23,7 Millionen Euro verdient. Kurzum: Ein Cent beim Strompreis entscheidet in dem Essener Werk, wo 800 Menschen arbeiten, über Gewinn oder Verlust.

Im Jahr 2000 kaufte Trimet den Strom noch für 2,5 Cent pro Kilowattstunde ein. Seither hätten sich die Preise für industriellen Grundlaststrom verdoppelt, beschreibt Iffert sein Problem. Und nicht nur seins: In Krefeld produzieren gut 2000 Arbeiter rostfreien Edelstahl. Auch sie müssen in riesigen Öfen Metall auf über 1600 Grad Celsius erhitzen. Allein der Krefelder Schmelzofen verbraucht pro Stunde so viel Energie wie zehn Einfamilienhäuser in einem Jahr.

Vor ein paar Wochen gab ThyssenKrupp den Verkauf des Werkes an den finnischen Wettbewerber Outokumpu bekannt. Bei ThyssenKrupp heißt es zwar offiziell, der Verkauf habe mit den Strompreisen nichts zu tun. Die Wirtschaftsvereinigung Stahl betont aber trotzdem bei jeder Gelegenheit, dass der Strom schon heute fast nirgends in Europa so teuer wie in Deutschland sei – obwohl die Energiewende ja gerade erst begonnen hat. Und Bernd Kalwa, Gesamtbetriebsrat bei ThyssenKrupp, sagt: "Allein in unserem Konzern sind 5000 Arbeitsplätze in Gefahr, weil in Düsseldorf und Berlin eine unverantwortliche Energiepolitik betrieben wird."

Stereotypes Gemecker von traditionell SPD-nahen Gewerkschaftern gegen die Politik einer christdemokratischen Bundesregierung? Eher nicht. Denn auch EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) sagt: "Man muss sich in Deutschland Sorgen um den Strompreis machen."

Nach einer Studie des Industrie- und Handelskammertags befürchten 60 Prozent der befragten Industrieunternehmen Stromausfälle oder Spannungsschwankungen im Stromnetz, weil sie Wind- und Sonnenkraft noch nicht für zuverlässig halten. Der Aluminiumhersteller Norsk Hydro hat seine deutschen Kapazitäten – unter anderem im Werk Neuss – schon drastisch reduziert. Der Düsseldorfer Mischkonzern GEA hat seine Zinkhütte in Datteln geschlossen. Alles Vertreter der sogenannten energieintensiven Industrien, zu denen in NRW auch die Papier-, die Zement- und die Chlorhersteller gehören.

Das vielleicht pikanteste Detail im NRW-Landtagswahlkampf: Mit Norbert Röttgen schickt die CDU ausgerechnet den Bundesumweltminister ins Rennen um das Spitzenamt in Deutschlands wichtigstem Industrieland. Also den Architekten der Energiewende, der billigen Atomstrom durch teuren Ökostrom ersetzen will. Hinter vorgehaltener Hand betonen führende Sozialdemokraten in NRW deshalb gerne, dass Röttgens Energiepolitik in der Industrie wenig Freunde habe. Öffentlich halten sie sich mit Kritik in diesem Punkt aber zurück, weil ihr Koalitionspartner eine große ideologische Verwandtschaft mit Röttgens Energiewende aufweist: Der Ausstieg aus der Atomenergie war Anfang der 80er Jahre schließlich zentrales Gründungsmotiv für die Grünen.

Ist Röttgens Energiewende wirklich ein Jobkiller? Die parteilose Wissenschaftlerin Claudia Kemfert, die Röttgen gerne zu seiner Energie- und Klimaministerin machen will, hält dagegen: "Mit dem Ausstieg aus der Atomenergie fallen Stellen weg, die mit dem Einstieg in die Erneuerbaren an anderer Stelle neu entstehen." Und zwar bis zu 16 000 neue Jobs allein in NRW, die Kemfert vor allem bei den Stromkonzernen und den Zulieferern für Windkraft-, Biomasse- und Solaranlagen kommen sieht.

Auch die Essener Trimet AG will von der Energiewende profitieren: "Solaranlagen bestehen zu einem erheblichen Anteil aus Aluminium", sagt Trimet-Chef Iffert. Außerdem sei Aluminium das am besten leitfähige Metall, weshalb es im Rahmen der Energiewende in großen Mengen für den Ausbau der Stromnetze gebraucht werde. "Die Frage ist nur, ob wir deutschen Hersteller dabei zum Zuge kommen oder das Aluminium aus dem Ausland, wo der Strom im Schnitt nur die Hälfte kostet."

Iffert will sich nicht festlegen, ob die Energiewende für Trimet ein Glücksfall ist oder ein Damoklesschwert. Er formuliert es so: "Jedenfalls ist die Energiewende das größte volkswirtschaftliche Experiment seit der Industriellen Revolution."

(RP)
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