Michel Barnier "Die EU akzeptiert keine Chlorhühnchen"

Der Brexit-Chefunterhändler der Europäischen Union kündigt klare Regeln für die Briten an: London müsse die Standards der EU anerkennen.

Brüssel Michel Barnier ist bekannt für seine strukturierte Arbeitsweise. Und seine guten Nerven. Der EU-Chefverhandler für den Brexit legt eine unerschütterliche Gelassenheit an den Tag. Für den Franzosen steht fest, dass die Regeln für den britischen EU-Austritt in Brüssel bestimmt werden und nicht in London.

Monsieur Barnier, es bleiben noch gut zehn Monate, um einen Deal zwischen Brüssel und London auszuhandeln. Wo stehen wir?

Barnier Seit Beginn der Verhandlungen haben wir bei der EU uns eine wichtige Frage gestellt: Ist London bereit, die vollen Konsequenzen eines geordneten Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU zu tragen? Seit vergangener Woche haben wir Gewissheit. Die britische Premierministerin Theresa May hat mit der ersten Vereinbarung über die Finanzen, Bürgerrechte und die Grenze in Nordirland die Frage mit Ja beantwortet. Ohne das Ja könnten die Verhandlungen nicht in die zweite Etappe gehen, wo es um die künftigen Beziehungen geht.

An der bisherigen Vereinbarung ist noch einiges unklar.

Barnier Nein, da widerspreche ich. Die Rechte von 4,5 Millionen EU-Bürgern, die jetzt in Großbritannien leben, oder von Briten, die jetzt auf dem Festland leben, sind sehr präzise definiert. Sehr präzise ist auch die finanzielle Vereinbarung. Wichtig ist mir, dass London seinen finanziellen Verpflichtungen nachkommt. Das Versprechen haben wir. Was Irland angeht, ist die Lage anders, politischer und sehr sensibel.

Es gibt die Forderung, dass die Briten bereits in der zweijährigen Übergangsphase ab Ende März 2019 die Nachteile eines Austritts spüren. Wo wird das der Fall sein?

Barnier Sie werden zum Beispiel keine Repräsentanten mehr in den europäischen Institutionen haben. Wir werden in dieser überschaubaren Phase des Übergangs zudem die gesamte Regelungsarchitektur der EU mit Großbritannien aufrechterhalten: Sie müssen ihre Beiträge bezahlen, sie dürfen nicht von den EU-Vorschriften abweichen. Sie müssen sich damit abfinden, dass der Europäische Gerichtshof die oberste juristische Instanz ist.

Wohin geht danach die Reise?

Barnier London hat für die Zukunft rote Linien gezogen. London will raus aus dem Binnenmarkt und raus aus der Zollunion. Und London will nicht mehr die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs respektieren. Bislang haben wir darüber hinaus wenige Anhaltspunkte, was sich London vorstellt.

Welche Zukunftslösung halten Sie am Ende für wahrscheinlich?

Barnier Wenn man die roten Linien in ein Modell überträgt, dann sind nicht die Beziehungen zur Schweiz, auch nicht zu Norwegen und noch nicht einmal zur Ukraine das Vorbild für unser künftiges Verhältnis zu Großbritannien. Dann landet man beim Modell Kanada, Korea und vielleicht noch Japan. Man kann es ergänzen, dann kommt vielleicht Kanada plus heraus.

Werden London und Brüssel bei der Sicherheit kooperieren können?

Barnier Da bin ich mir sicher. Beim Kampf gegen den Terrorismus und in der Verteidigungspolitik halte ich eine weitere enge Zusammenarbeit für dringend geboten. Beide Seiten können sie sogar noch verstärken.

Die Briten wollen, dass ihre Banken Zugang zum Binnenmarkt behalten.

Barnier Das wird nicht gehen. Ich kenne kein einzelnes Freihandelsabkommen, das die gegenseitige Öffnung für den Finanzsektor vorsieht. Indem Großbritannien die EU auf eigenen Wunsch verlässt, also aus Binnenmarkt und Zollunion herausgeht, verlieren britische Finanzinstitute den Bankenpass, der nötig ist, um in der EU tätig zu werden. Da gibt es keinen Spielraum.

Besteht die Gefahr, dass Großbritannien künftig in den Handelsbeziehungen EU-Vorschriften unterläuft?

Barnier Wenn das Vereinigte Königreich aus dem Binnenmarkt austritt, werden wir zwei Märkte haben, die miteinander kooperieren. Die beiden Märkte sind sich zu nah, als dass wir britisches Dumping akzeptieren könnten. Die EU wird es nicht London überlassen, die Vorschriften zu definieren. Letztlich geht es bei dem Freihandelsabkommen, das Brüssel mit London abschließen wird, darum, ob Großbritannien die Standards der EU akzeptiert.

Die USA buhlen zuweilen um die Nähe zu Großbritannien.

Barnier Die Briten werden sich entscheiden müssen: Wollen sie mit ihren Vorschriften nahe bei der EU bleiben, wenn das Land draußen ist, oder nicht? Etwa im Bereich der Lebensmittelsicherheit. Wir werden jedenfalls keine Chlorhühnchen in der EU akzeptieren.

Die Stimmung in Großbritannien scheint gerade zu kippen. Könnte es noch einen Exit vom Brexit geben?

Barnier Wir verhandeln mit einer Regierung in London, die am Brexit festhält. Aus der Sache käme man inzwischen nur noch heraus, wenn die EU der 27 und London gemeinsam beschließen würden, dass der Brexit nicht stattfindet.

M. GRABITZ FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(RP)
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