Analyse Die Wahl ist nicht barrierefrei

Berlin · 85.000 Deutsche dürfen am 24. September nicht an der Bundestagswahl teilnehmen - ein Gesetz verbietet ihnen die Stimmabgabe, weil sie Behinderungen haben. Darf man diese Menschen von Wahlen ausschließen?

Wahlprogramm der CDU/CSU 2017 für die Bundestagswahl im September
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Das Wahlprogramm der Union für die Bundestagswahl

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Foto: dpa, mkx axs

Im ganzen Land werden Bürgersteige abgesenkt, Wege an Bushaltestellen markiert und Aufzüge in Bahnhöfe gebaut. Das Ziel: die Überwindung der Stufe, die Zugänglichkeit des Öffentlichen Personennahverkehrs für alle Menschen - mit und ohne Behinderung. Bis 2022, so verlangt es die UN-Behindertenrechtskonvention, muss der Nahverkehr barrierefrei sein. Sehr vielen Menschen soll das alltägliche Leben erleichtert werden. Deutschland wird barrierefrei. Es gibt jedoch eine spektakuläre Ausnahme: die Wahlurne.

Wenn am 24. September die Deutschen den Bundestag wählen, dürfen knapp 85.000 Wahlberechtigte nicht teilnehmen. Sie dürfen ihr Grundrecht nicht nutzen. Sie dürfen nicht bestimmen, wer ihre politischen Interessen vertritt, wer sie regiert. Paragraf 13 des Bundeswahlgesetzes schließt zwei Gruppen von Menschen aus: schuldunfähige Straftäter, die sich in einer Psychiatrie befinden. Und Menschen, die körperlich oder geistig derart stark beeinträchtigt sind, dass sie im Alltag einen Betreuer brauchen, der all ihre Angelegenheiten regelt.

Ulla Schmidt ärgert das. Die Sozialdemokratin, Vize-Präsidentin des Bundestags und Vorsitzende der Bundesvereinigung Lebenshilfe, sagt: "Menschen mit Behinderung wollen wie jeder andere an der Wahl teilnehmen." Das Wahlrecht, sagt Schmidt, sei ein universelles Recht, das jedem Deutschen zustehe. "Es gibt keinen Grund, warum ich jemanden ausschließen sollte", sagt Schmidt, die im Wahlkreis ihres Parteichefs Martin Schulz in Aachen wieder für den Bundestag kandidiert. Ulla Schmidt möchte die Absätze in Paragraf 13 ersatzlos streichen.

Im Grundgesetz steht: "Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt." Es heißt in Artikel 38: "Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat." Die Bestimmung ist das Lebenselixier der Demokratie. Darin wird garantiert, dass alle Bürger die gleichen Beteiligungschancen haben, frei von staatlicher Beeinflussung. Die Allgemeinheit der Wahl ist ein wesentlicher Grundsatz. Alle Staatsbürger besitzen das Stimmrecht - unabhängig von Religion, Geschlecht, Einkommen, Überzeugung oder Parteizugehörigkeit. Alle, bis auf die Ausgeschlossenen.

Nach der Bundestagswahl 2013 haben acht Menschen mit Behinderung Wahlprüfungsbeschwerde beim Bundestag eingelegt. Sie wollten wählen wie jeder andere. Der Bundestag aber lehnte ab, verwies auf das geltende Recht. Also haben sie am 9. Dezember 2014 beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde eingereicht. Sie bekommen Unterstützung von der Lebenshilfe und der Rechtsanwältin Anna Luczak, die sie mit anderen in Karlsruhe vertritt. Die Berliner Anwältin ist "einigermaßen schockiert", denn seit Dezember 2014 ist nicht viel geschehen. Der Zweite Senat brütet über einer Entscheidung und will sie noch 2017 verkünden - ob noch vor der Wahl, ist laut einem Gerichtssprecher aber unklar.

Sinn der Beschwerde beim Verfassungsgericht war, dass vor der nächsten Wahl Klarheit herrscht. Diese steht bald an, von Klarheit aber ist man weit entfernt. Die Union, so hört man, wollte an den Regeln keine Änderung mehr, solange sich das höchste deutsche Gericht damit beschäftigt. Politik nach Gerichtsurteilen. Das Bundesverfassungsgericht wird entscheiden: Darf man Menschen mit Behinderung von Wahlen ausschließen? Sollte es die Regeln aus Paragraf 13 für verfassungswidrig erklären, würde das aber nur Wirkung für die darauffolgenden Wahlen haben. Luczaks Mandanten verstehen die Welt nicht mehr: Warum konnte man diese Frage in vier Jahren nicht klären?

Die Wahlrechtsausschlüsse werden in den verschiedenen Bundesländern sehr unterschiedlich beansprucht. Eine Studie des Bundessozialministeriums von 2016 kommt zu dem Ergebnis, dass es "teilweise erhebliche regionale Unterschiede" gibt. Während in Bremen von 100.000 eigentlich Wahlberechtigten im Durchschnitt 7,8 Personen ausgeschlossen sind, liegt die Zahl in Bayern bei 203,8. Das sind rund 26-mal so viele. Von den 85.000 Ausgeschlossenen wiederum sind vier Prozent schuldunfähige Straftäter und 96 Prozent Vollbetreute. Vollkommen unterschiedlich ist die Handhabung auch bei den verschiedenen Wahlen. Bei der NRW-Landtagswahl durften die von der Bundestagswahl ausgeschlossenen Menschen wählen, auch in Schleswig-Holstein machten. Warum dürfen sie dort wählen, woanders aber nicht? Und warum dürfen schuldunfähige Straftäter etwa in Baden-Württemberg, Hessen oder Sachsen-Anhalt wählen, Vollbetreute aber nicht? Der Umgang mit dem Wahlrecht, dem wichtigsten demokratischen Recht, erscheint willkürlich.

Während Linke, Grüne und SPD sich zuletzt noch einmal für das Wahlrecht für Menschen mit Behinderungen eingesetzt haben, wartet die Union ab. Hubert Hüppe, der für die CDU im Bundestag sitzt und der früher Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen war, sagt allerdings: "Ich muss mir schon sehr besondere Gründe einfallen lassen, dass ein Mensch nicht wählen darf." Eine Behinderung gehöre jedenfalls nicht dazu. FDP-Vize Wolfgang Kubicki sieht das anders. Er warnt vor Missbrauch des Wahlrechts durch die Betreuer: "Wenn ein Mensch überhaupt nichts selbst entscheiden kann, kann er sich auch bei einer Wahl nicht entscheiden."

Ein Argument, das Ulla Schmidt nicht gelten lässt. Schließlich könnte auch bei der Briefwahl jemand anders als der eigentlich Wahlberechtigte die Kreuze machen. "Dann müssten wir Briefwahlen auch verbieten", sagt Schmidt. Missbrauch des Wahlrechts ist eine Straftat. Die 85.000 Menschen werden wohl trotzdem am 24. September nicht wählen dürfen. Sie müssen warten. Auf eine Entscheidung aus Karlsruhe.

(her)
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