Analyse Die Bildungswutbürger

Düsseldorf · 79 Prozent der Gymnasial-Eltern wollen das "Turbo-Abitur" loswerden. So weit, so plakativ. Die neueste Studie zeigt aber auch, mit wem es die Schulministerin zu tun hat. Und warum die Empörung für Rot-Grün so gefährlich ist.

Sie sind viele. Und sie sind wütend. Sehr wütend. Die Rede ist von den Gegnern des achtjährigen Gymnasiums (G 8) in NRW. Meinungsforscher hatten bereits mehrmals Dreiviertelmehrheiten gegen G 8 erhoben; jetzt hat die Landeselternschaft der Gymnasien erstmals ausschließlich Gymnasial-Eltern befragt. 79 Prozent, ergab der repräsentative Teil der Studie, wollen das neunjährige Gymnasium (G 9) zurück.

Der Bielefelder Bildungsforscher Rainer Dollase hat den Eltern aber noch 31 weitere Fragen gestellt. Aus den Antworten zeichnet sich ein Bild der Bewegung ab, mit der es die grüne Schulministerin Sylvia Löhrmann zu tun hat. Es ist das Bildungsbürgertum, die klassische Gymnasial-Klientel mit einem ebenso klassischen Bildungsideal, die befürchtet, ihre Kinder hätten im G 8 schlechtere Chancen, jene Reife zu erlangen, die das Abiturzeugnis verspricht. Eben deshalb ist die Empörung für Löhrmann gefährlich: weil sie aus der Mitte der Gesellschaft kommt und nicht von den radikalisierten Rändern.

Die Stimmung Als Wutbürger bezeichnet zu werden, missfällt vielen G 8-Gegnern - von ihrer Wut aber reden sie selbst gern und oft. Mehr und mehr schwindet auch deshalb die Basis für einen Kompromiss mit den G 8-Anhängern. "Es bahnt sich Verbitterung an", sagt Studienautor Dollase, denn fast die Hälfte der G 9-Befürworter nennt sich selbst kompromisslos - doppelt so viele wie bei den G 8-Anhängern. Schon kommt die Forderung, jetzt ein neunjähriges System ohne Ausnahmen festzuschreiben. Inoffiziell fügen prominente G 9-Anhänger hinzu: Für die G 8-Minderheit brauche es keine Parallelstrukturen; Einzelfallregelungen reichten. Es dürften auch solche Begehrlichkeiten sein, die Ulrich Czygan, den Vorsitzenden der Landeselternschaft, zur Mahnung veranlassten, Rücksicht auf die Minderheit zu nehmen, selbst wenn es sich nur um ein Fünftel handele.

Die G 9-Anhänger haben eben Oberwasser. Seit 2013, als die jahrelang aufgestaute Erbitterung sich erstmals klar artikulierte, nämlich im Zuge der Kritik an einer Mathematik-Abiturklausur, ist die Unterstützung für G 8 peu à peu geschwunden. 2014 kehrte Niedersachsen zu G 9 zurück. Da ließ Löhrmann den runden Tisch einberufen, der Reformen empfahl - weniger Hausaufgaben, weniger Arbeiten pro Woche, weniger Nachmittagsunterricht. 2015 sammelten Bürgerinitiativen in NRW fast 100.000 Unterschriften für G 9. Jetzt, ein Jahr vor der Landtagswahl, hat das Thema so viel Schwung, dass ein G 8-Wahlkampf unvermeidlich scheint.

Die Erwartungen Mindestens ebenso wichtig wie ein Jahr mehr Zeit ist den G 9-Befürwortern, dass die Schüler diese Zeit am Gymnasium verbringen. Nur zwei Prozent sprechen sich für die Gesamtschule als Alternative zum "Turbo-Abitur" aus. Die Gesamtschule ist noch weitaus unbeliebter als eine G 8-Reform, für die immerhin knapp 20 Prozent plädieren. Wichtigster Grund pro Gymnasium ist "die hohe Qualität der Ausbildung" (63 Prozent). Auf Platz zwei (44 Prozent) folgt allerdings schon "die soziale Situation" - oder anders: Man bleibt gern unter sich. Die Bildungsbürger suchen für ihre Kinder das passende Milieu, und das ist keinesfalls die Gesamtschule. "Man möchte nicht mit einem Reformmodell abgespeist werden", fasst Dollase zusammen: "Das ist die Faszination der klassischen Form der Ausbildung." Faszinierend erscheint auch die althergebrachte Organisation: Die Zustimmung zum Halbtagsgymnasium ist hoch; 14 Uhr ist die Wunschzeit für das letzte Klingelsignal. Allenfalls einen freiwilligen Ganztag mag die Mehrheit akzeptieren.

Weniger Stoff, weniger Hausaufgaben, geringere Anforderungen im Abi, weniger Allgemeinbildung - all das gilt nicht als Heilmittel für die wahrgenommene Malaise. Die Eltern erwarten anspruchsvollen Unterricht. Und gute Leistungen: Von den 27 Prozent, die angeben, ihr Kind bekomme Nachhilfe, begründen das vier Fünftel nicht mit Gefahr für die Versetzung, sondern mit der Optimierung der Notenbilanz.

Die Sprache Die Zurück-zu-G 9-Befürworter sind keine Radikalen. Sie reden aber manchmal so. Da werden G 8-Anhänger schon mal als Produzenten von "geistigem Dünnschiss" tituliert und verdächtigt, im Sold des Ministeriums zu stehen. Als die G 8-Gegner 2015 die 100.000 Unterschriften einreichten, verbanden sie ihren Appell an Löhrmann, jetzt zu handeln, mit der Drohung, sonst werde das Volk die Politiker eben "zum Teufel jagen". SPD, Grüne, CDU und FDP seien bei G 8 eine "Einheitspartei". Ähnlich und unwidersprochen konnte vor zwei Wochen Dollase vor der Landeselternschaft das G 8 mit einer Diktatur vergleichen: Menschen ließen sich eben nicht beliebig in Systeme zwingen - das habe die DDR gezeigt.

Die Wirkung Die Landesregierung gibt sich, je nach Perspektive, standfest oder stur: An G 8 will man festhalten, die Reformen wirken lassen. Die G 9-Anhänger freilich sehen den runden Tisch als Abnick-Gremium, in dem Löhrmann die G 8-Mehrheit sichergestellt habe. Tatsächlich aber ist die Mehrheit der Verbände und Parteien weiter gegen die komplette G 8-Abschaffung. Auch die Landeselternschaft votierte am runden Tisch für Reformen statt Rolle rückwärts, obwohl es im Verband längst gärte.

Klare Unterstützer des G 8-Kurses allerdings muss man inzwischen mit der Lupe suchen. Zwar sagen nur die Piraten ausdrücklich, das "Turbo-Abi" sei gescheitert. Aber selbst aus den Regierungsfraktionen sind klare Bekenntnisse zu G 8 schwer zu bekommen. Aus der SPD heißt es, natürlich wisse man, wie sehr das Thema die Basis umtreibe. Und seit SPD-Fraktionsvize Eva-Maria Voigt-Küppers im vergangenen Sommer plötzlich offenherzig über einen Plan B redete, ist man bei Rot-Grün peinlich bemüht, allein den Anschein zu vermeiden, man denke über Ausstiegsszenarien nach.

Auffällig unauffällig verhält sich die CDU: Nein, bloß jetzt keine neuen Reformbaustellen. Aber was nach 2017 sei, werde man sehen. Die Prognose jedenfalls, G 8 sei noch zu retten - die ist nirgends mehr laut zu hören. Zu gewagt.

(fvo)
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