Paris Die Angst der französischen Juden

Paris · Nirgendwo in Westeuropa gibt es so viele antisemitische Angriffe wie in Frankreich. Die Täter sind häufig Muslime.

Roger und Mireille Pinto werden den 8. September 2017 nie vergessen. Das Rentnerehepaar wurde in seinem Haus im Pariser Vorort Livry-Gargan von Einbrechern gefesselt und geschlagen, bevor die Angreifer mit Geld, Kreditkarten und Schmuck verschwanden. "Sie haben zu uns gesagt: Ihr seid Juden, ihr habt Geld", erzählte Roger Pinto einem TV-Team. Seine Frau zeigte das Chaos in ihrem Kleiderschrank, das die Täter auf der Suche nach einem Safe hinterlassen haben. Sie hatte noch nicht die Kraft, die Spuren zu beseitigen. "Dabei haben wir nicht einmal einen Tresor."

Die Pintos sind nicht die einzigen französischen Juden, die in den vergangenen Monaten Opfer eines Angriffs mit antisemitischen Motiven wurden. Der brutalste Fall war der von Sarah Halimi, die im April von einem Angreifer nachts in ihrer Wohnung im Pariser Stadtteil Belleville misshandelt und dann mit dem Ruf "Allahu akbar" (Gott ist groß) aus dem Fenster des dritten Stockwerks geworfen wurde. Wochenlang sorgte der Mord indes kaum für Schlagzeilen. Der schließlich gefasste Täter wurde schnell in die Psychiatrie eingewiesen, bevor die Staatsanwaltschaft dann am Ende doch den antisemitischen Hintergrund seiner Tat anerkannte.

335 antisemitische Taten zählte das französische Innenministerium im vergangenen Jahr. Das ist zwar deutlich weniger als im Vorjahr. Doch noch immer sind die Juden, die nur ein Prozent der französischen Bevölkerung ausmachen, Opfer von rund 30 Prozent der rassistischen Angriffe. Ein Vergleich, den die politischen Stiftung "Fondapol" unter sieben europäischen Ländern anstellte, kam unlängst zu dem Schluss, dass die Juden in Frankreich am stärksten antisemitischer Gewalt ausgesetzt sind. Dabei lebt ausgerechnet in Frankreich mit rund 500.000 Mitgliedern die größte jüdische Gemeinde Europas.

Zugleich leben in Frankreich auch die meisten Muslime in Europa - rund fünf Millionen. Das führt gerade in den sozialen Brennpunkten rund um die Großstädte zu Problemen. "Der gewalttätige Antisemitismus geht zum Großteil von der muslimischen Gemeinde aus", sagt Francis Kalifat. Der Präsident des jüdischen Dachverbandes Crif spricht damit schonungslos das aus, was sonst kaum einer offen zu sagen wagt - aus Sorge, das ohnehin komplizierte Zusammenleben der Religionen noch weiter zu gefährden. "Man muss damit aufhören, diese intolerante Minderheit zu schonen", fordert die Philosophin Elisabeth Badinter. Sie prangerte als eine der wenigen öffentlich das Schweigen nach dem Tod Halimis an. "Die Stimmen, die sich erheben, werden seltener. Deshalb sage ich meinen Landsleuten: Lasst die Juden ihren Kampf nicht alleine führen."

Zum Beispiel in Garges-lès-Gonesse, einer Vorstadt im Norden von Paris. Die Synagoge liegt dort mitten zwischen Wohnblocks. Geschützt durch einen grünen Zaun, der schon vielfach übermalt wurde, weil immer wieder antisemitische Parolen darauf geschmiert wurden. "Die Leute werden oft bedroht, aber keiner erstattet Anzeige", berichtete der Vorsitzende der Synagoge, Alain Bensimon. Auch Verbandsfunktionär Kalifat weist darauf hin, dass die Statistik nur die antisemitischen Handlungen erfasst, die auch angezeigt werden. "Es gibt aber auch den alltäglichen Antisemitismus, den die Juden erleben, die in den Problemvierteln rund um Paris wohnen", sagt der Crif-Vorsitzende. "In manchen Orten in Frankreich ist es unmöglich, mit der Kippa auf die Straße zu gehen."

Kalifat sieht die französischen Juden neben dem muslimischen Antisemitismus auch durch den "klassischen" Antisemitismus der Rechtsextremen gefährdet, der in den Reihen des Front National (FN) weiter existiert. "Der Front National ist für uns eine geächtete Partei, denn in seinem Dunstkreis finden wir all die Nostalgiker der NS-Besatzung Frankreichs", sagt der 65-Jährige. Die von FN-Chefin Marine Le Pen propagierte "Reinigung" vom alten rechtsextremen Gedankengut überzeugt den Crif nicht. Doch auch Frankreichs extreme Linke wird von dem einflussreichen jüdischen Dachverband abgelehnt. "Sie ist Träger eines neuen Antisemitismus, nämlich des Hasses auf Israel." So unterstütze die kommunistische Partei den Boykott Israels. "Der Antizionismus und der wachsende Hass auf Israel wirken wie eine Verpackung, die den Antisemitismus verschleiert, ihn gesellschaftstauglich macht und sogar legitimiert", vermerkt der dem Crif nahestehende "Dienst zum Schutz der jüdischen Gemeinde", der jedes Jahr gemeinsam mit der Polizei die Zahl antisemitischer Angriffe erhebt.

Die Folge dieses Klimas: In den vergangenen Jahren verließen viele französische Juden ihre Heimat, um nach Israel auszuwandern. Die verstärkte "Aliyah" begann nach dem Anschlag auf die jüdische Schule 2012 in Toulouse und erreichte ihren Rekord 2015 mit 7900 jüdischen Emigranten. Wohl auch eine Reaktion auf die blutige Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt in Paris und die propalästinensischen Kundgebungen des Sommers 2014, bei denen Demonstranten "Juden raus!" brüllten. "Seit dem Anschlag von Toulouse waren die Juden Ziele", bemerkt Kalifat. "Doch mit dem Angriff auf das "Bataclan" 2015 hat sich das geändert, denn plötzlich ist ganz Frankreich zur Zielscheibe geworden." Die Zahl der Auswanderer ging danach zurück und lag im vergangenen Jahr bei rund 5000.

Nicht alle Juden, die sich bedroht fühlen, verlassen gleich das Land. Viele ziehen innerhalb Frankreichs um - in sicherere Viertel oder andere Städte wie Bordeaux, wo die jüdische Gemeinde 2016 rund 30 Familien aufnahm. "Hier können sie ohne Probleme mit ihrer Kippa im Stadtzentrum spazieren gehen", sagt der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde von Bordeaux, Erick Aouizerate. Auch Roger und Mireille Pinto wollen ihr Einfamilienhaus in Livry-Gargan verlassen. Aber vorher will Roger Pinto noch gegen die mutmaßlichen Angreifer aussagen, die die Polizei Ende November festnahm. "Sie sollen für das, was sie uns angetan haben, zur Rechenschaft gezogen werden."

(RP)
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