Winfried Kretschmann im Interview "Verhandlungen mit der Türkei auf Eis legen"

Stuttgart · Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann spricht im Interview über künftige Koalitionen, den Umgang mit Erdogan und umstrittene Absprachen.

 Winfried Kretschmann ist gegen EU- Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nach dem Putschversuch.

Winfried Kretschmann ist gegen EU- Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nach dem Putschversuch.

Foto: dpa, mut

Wenn der Landesvater aus dem Fenster schaut, hat er einen herrlichen Blick auf Stuttgart. Die Villa Reitzenstein liegt am Hang über dem Stuttgarter Talkessel. Hier oben weht an diesem heißen Sommertag immerhin ein laues Lüftchen. Erst seit dem Herbst residiert Winfried Kretschmann wieder hier in der schmucken Villa, die 1910 für die Baronin Helene von Reitzenstein erbaut worden ist und nun zwei Jahre lang saniert wurde.

Herr Kretschmann, Sie führen seit einigen Wochen eine grün-schwarze Koalition in Stuttgart. Was unterscheidet die Zusammenarbeit mit der CDU von der mit der SPD?

Kretschmann CDU und SPD ticken unterschiedlich. Mit der CDU hätten wir die Gemeinschaftsschulen nicht einführen können, mit der SPD haben wir sie eingeführt. Mit der CDU kann man dagegen wirtschaftspolitische Themen besser umsetzen, etwa die Digitalisierung. Wir Grüne stehen natürlich den Sozialdemokraten in vielen Fragen näher und Grün-Schwarz war keine Wunschkoalition. Klar, dass wir nach drei Monaten noch in der Eingewöhnungsphase sind, aber es läuft ganz gut an.

Warum würden Sie ab 2017 auch im Bund Schwarz-Grün befürworten?

Kretschmann Das habe ich nicht gesagt, das sind alles Überinterpretationen. Ich habe gesagt, wir Grüne sollten offen sein für eine schwarz-grüne Koalition im Bund. Das ist etwas anderes. Das heißt lediglich, die Grünen sollten eigenständig bleiben. Nach den letzten drei Landtagswahlen haben sich ungewöhnliche neue Bündnisse gebildet, die es vorher gar nicht gab. Lagerkoalitionen werden seltener und sind schon rechnerisch künftig immer unwahrscheinlicher. Es gibt weder rot-grüne noch schwarz-grüne Mehrheiten. Deshalb müssen demokratische Parteien in jede Richtung koalitionsfähig sein.

Gut. Dann andersherum gefragt: Warum wäre denn Rot-Rot-Grün keine empfehlenswerte Option?

Kretschmann Ich sehe nicht, wie wir mit der Linken ein starkes Industrieland regieren wollen. Die Linke lebt mental in einer Nationalökonomie, während in der Zeit der Globalisierung die internationalen Verflechtungen immer stärker werden. Und wenn die Linkspartei Hillary Clinton zu einer Staatsterroristin erklärt, bewegt sie sich außenpolitisch im Niemandsland. Mit so einer weltfremden Partei kann ich mir eine Außenpolitik nicht vorstellen. Mit der Linkspartei ist es in diesen großen internationalen Krisen nicht möglich, Deutschland erfolgreich zu regieren.

Ihre Partei entscheidet bald über ein Spitzenkandidaten-Duo für die Bundestagswahl. Brauchen die Grünen eine fein austarierte Doppelspitze?

Kretschmann Ich bin genau deswegen gegen die Doppelspitze, weil immer Linke und Realos in der Spitze vertreten sind. Die Partei muss sich aber entscheiden, welchen Kurs sie einschlägt. Es muss doch für die Wähler klar sein, welche Richtung die Grünen einschlagen. Aber ich habe den Kampf gegen die Doppelspitze aufgegeben. Wenn die Partei zwei unterschiedliche Spitzenleute hat, müssen die Grünen dafür sorgen, dass beide durch eine klare programmatische Positionierung an einem Strang ziehen.

Der Richtungsstreit entzündet sich etwa an der Frage der Vermögensteuer. Warum sind Sie gegen die Steuer?

Kretschmann Wir sehen schon bei der Erbschaftsteuer, wie schwierig es ist, zwischen privatem und betrieblichem Vermögen zu unterscheiden. Privates Vermögen will man hoch besteuern, das andere nicht, weil daran Arbeitsplätze hängen. Familienbetriebe sind das Rückgrat unserer Wirtschaft. Wir wollen sie nicht durch Substanzsteuern schwächen. Außerdem wäre die Vermögensteuer sehr aufwendig. Wir müssten dafür viel zu viel Personal einstellen. Selbst SPD-Vize Schäfer-Gümbel, der die Steuer befürwortet, gibt zu, dass er noch kein Modell hat, das Familienbetriebe garantiert nicht gefährdet.

Bedeutet das, dass Bund und Länder unbedingt einen Kompromiss bei der Erbschaftsteuer finden müssen?

Kretschmann Es ist extrem wichtig, dass wir im Vermittlungsausschuss rechtzeitig zu einer Lösung kommen. Die Betriebe brauchen Planungssicherheit. Außerdem wird sonst das Verfassungsgericht selber aktiv. Das wäre eine dramatische Blamage für die Politik. Baden-Württemberg hätte mit dem ausgehandelten Kompromiss der Koalition gut leben können. Wir müssen sehr zügig nach der Sommerpause zu einer Lösung kommen.

Präsident Erdogan lässt massenhaft Richter und Journalisten verhaften. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Kretschmann Die Entwicklung in der Türkei ist außerordentlich besorgniserregend. Es ist zwar gut, dass aus dem Putsch nichts geworden ist. Aber wenn wir jetzt einen zivilen Putschversuch durch Erdogan erleben, der den Rechtsstaat aushebelt, dann muss uns das sehr besorgen. Wenn man sieht, wie Erdogan Zigtausende Richter, Staatsanwälte und Lehrer einfach auf die Straße setzt, hat das mit Rechtsstaatlichkeit nichts mehr zu tun. Es ist jetzt Aufgabe der Bundesregierung, Erdogan ganz klar zu signalisieren, dass wir das in keiner Weise akzeptieren.

Muss die EU die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abbrechen?

Kretschmann Ja. Die sollten wir auf Eis legen, es darf kein neues Kapitel bei den Verhandlungen eröffnet werden. Wer die Todesstrafe einführen will, kann nicht Mitglied der EU werden.

Welche Folgen fürchten Sie bei uns?

Kretschmann Wir müssen mit allen Mitteln verhindern, dass der innertürkische Konflikt zwischen Erdogan-Unterstützern und Erdogan-Gegnern auf deutschen Straßen ausgetragen wird. Wir müssen darüber intensive Gespräche mit den türkischen Gemeinden führen. Wir können auch in keiner Weise akzeptieren, dass Erdogan-Anhänger Landsleute unter Druck setzen, ihre Kinder von Schulen zu nehmen, die angeblich unter dem Einfluss der Gülen-Bewegung stehen. Hier geht es um deutsche Schulen, die unter staatlicher Aufsicht stehen, da gelten deutsche Bildungspläne. Wir erwarten von allen Türken, auch den Erdogan-Anhängern, die hier leben, dass sie sich an die verfassungsmäßige Ordnung halten.

Was kann helfen, solche Terrorakte wie in Ansbach zu verhindern?

Kretschmann Die Zahl der Gewalttaten und Anschläge, die uns in jüngster Zeit heimgesucht haben, und ihre Brutalität sind bedrückend. Nicht alle, siehe die schrecklichen Morde in München oder die Tat in Reutlingen, haben einen terroristischen oder islamistischen Hintergrund. Aber auch hier muss uns die ungehemmte Gewaltbereitschaft sorgen. Sicher kann der Islamunterricht dabei helfen, jungen Muslimen den Unterschied zwischen Terrorismus und ihrer Weltreligion, dem Islam, zu verdeutlichen. Zu den ersten Pflichten des Staates gehört es, für die Sicherheit der Menschen zu sorgen und unsere freiheitliche Gesellschaft zu schützen. Auch wenn es eine hundertprozentige Sicherheit nicht geben kann, müssen wir alles dafür tun, solche Taten zu verhindern und Terror zu bekämpfen. Wir haben dazu schon nach den schrecklichen Anschlägen in Paris Anti-Terrorpakete aufgelegt und zum Beispiel Prävention, Polizei und Verfassungsschutz verstärkt. Auch jetzt schauen wir, wie wir uns hier noch besser aufstellen können.

Brauchen wir in diesen Zeiten einen gelernten Politiker als Präsidenten?

Kretschmann Das Amt des Bundespräsidenten ist das höchste politische Amt im Staate, deshalb muss es ein Politiker sein. Der amtierende Bundespräsident war da eine Ausnahme. Aber Gauck war ja immer ein politischer Mensch. Der neue Präsident muss in der Lage sein, für den Zusammenhalt der Gesellschaft zu kämpfen, sie nicht zu spalten. Ich warne vor parteitaktischem Kalkül bei der Präsidentenwahl. Ich kann allen Parteien nur raten, einen parteiübergreifenden Konsens zu finden. Es wäre schön, wenn es eine Frau wäre, aber das kann nicht das entscheidende Kriterium sein.

Hat Ihr eigenes Image durch die geheimen Nebenabsprachen mit der CDU einen Kratzer bekommen?

Kretschmann Das wird sich erweisen. Nebenabsprachen sind üblich und unumgänglich in der Politik. Alles andere wäre naiv. Die Absprachen habe ich sehr bewusst gemacht. Ich übernehme dafür die volle Verantwortung, denn es ist nichts Unrechtes abgesprochen worden, sondern die Absprachen dienen dem Zusammenhalt der Koalition. Deshalb habe ich überhaupt kein schlechtes Gewissen. Die Bürgerschaft hat einen Anspruch darauf, dass die neue Koalition das Land fünf Jahre ordentlich regiert und voranbringt.

Mit Winfried Kretschmann sprach Birgit Marschall.

(mar)
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