Immer wieder Missbrauchsfälle Was bei der Berufsarmee schiefläuft

Berlin · Die Serie von Missbrauchsfällen in der Bundeswehr reißt nicht ab. Nach ersten Untersuchungen scheint nur ein Bruchteil öffentlich zu werden. Hat auch der Umstieg von der Wehrpflicht- zur Berufsarmee damit zu tun?

 "In Zeiten der Wehrpflicht gab es mehr Aufsicht": Bundeswehrsoldaten bei einer Übung.

"In Zeiten der Wehrpflicht gab es mehr Aufsicht": Bundeswehrsoldaten bei einer Übung.

Foto: dpa, sts

Deutliche Worte findet Heeresinspekteur Jörg Vollmer in seinem jüngsten internen Befehl an die Truppe: "Verschweigen, Weghören, Wegschauen ist falsch verstandene Kameradschaft, Eingreifen und Verhindern eine Frage der Ehre." Auch Generalinspekteur Volker Wieker hat Anlass, eilig eine "Analyse zur inneren Lage der Bundeswehr" vorzulegen. Und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) richtete in ihrem Haus eine "Ansprechstelle Diskriminierung und Gewalt in der Bundeswehr" ein. Die Medienberichte über Misshandlungen und Herabwürdigungen von Soldatinnen und Soldaten durch Kameradinnen und Kameraden in Pfullendorf, Bad Reichenhall und weiteren Standorten scheinen nur die Spitze eines Eisberges zu erfassen. Was läuft schief hinter deutschen Kasernentoren?

3100 Meldungen über Vorfälle

Die Zahlenbasis ist nicht eindeutig, wird möglicherweise auch in Teilen verschleiert. Jedenfalls beschweren sich Parlamentarier über unvollständige Angaben. Wieker führt "rund 40 Hinweise" auf, die bei Zivilbeschäftigten in Richtung Mobbing gingen und bei Soldaten schwerpunktmäßig im Bereich "sexuelle Übergriffe" lägen. Ergänzend verlautete aus Bundeswehr-Kreisen, es habe 2015 bis 2017 insgesamt 3100 Meldungen über Vorfälle gegeben, die eine "Relevanz" zur "Inneren Führung" aufwiesen. Davon hätten mehr als 200 von sexueller Belästigung, Benachteiligung und Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gehandelt. Aber was heißt "mehr als 200"? Auch von mehr als 500 war in diesem Zusammenhang mal die Rede. Der erfahrene Kriminologe Christian Pfeiffer soll das alles nun systematisch auswerten.

Trends hat aber auch die Bundeswehrführung schon selbst ermittelt: "Im Fokus stehen überwiegend Mannschaftssoldaten und Unteroffiziere, vorrangig im Altersband zwischen 20 und 30 Jahren", heißt es unter "wesentliche Erkenntnisse" in der Untersuchung des Generalinspekteurs. Und er folgert daraus: "Dieses lässt ein besonderes Erfordernis an stringenter Führung, Ausbildung und Erziehung für diesen Personenkreis erkennen."

Übertriebener Härte als Auszeichnung?

Das ließe sich auch auf das Argument beziehen, wonach einige Ausbilder Grenzen überschritten, um Situationen zu simulieren, in die Spezialkräfte, vor allem Frauen, nach einer Gefangennahme durch islamistische Terroristen kommen könnten. Doch der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hans-Peter Bartels (SPD), hält diesen Erklärungsversuch für vorgeschoben. Er vermutet bei spezialisierten Kräften eher ein "zusätzliches Problem, dass manche dort das Gefühl haben, sich mit übertriebener Härte von anderen unterscheiden zu sollen".

Die Bundeswehr wird nach der Beobachtung von Bartels insgesamt älter, also quasi "eine Armee der Mütter und Väter". Es gebe mehr Zeitsoldaten, mehr Berufssoldaten, mehr ältere Quereinsteiger. Deshalb könne man davon ausgehen, dass die Probleme, die vor allem jüngere Soldaten beträfen, "in der Fläche abnehmen". Tatsächlich seien vor allem die mannschaftsstarken Kampfverbände mit vielen jungen Leuten betroffen. Und hier kommt tatsächlich der Umstieg von der Wehrpflicht- zur Berufsarmee ins Spiel.

"In Zeiten der Wehrpflicht gab es mehr Aufsicht", sagt Bartels unserer Redaktion. Da waren der Gefreite vom Dienst, der Unteroffizier vom Dienst, die militärische Bereitschaft - diese Präsenz habe es erleichtert, informell Dinge mitzukriegen, etwa entwürdigende Aufnahmerituale. "Es ist nun schlicht niemand mehr da, der hinguckt", erläutert Bartels.

SPD-Verteidigungsexperte Rainer Arnold teilt diesen Befund: "Zur Zeit der Wehrpflicht waren die Vorgesetzten Tag und Nacht mit in der Kaserne, nun sind die jungen Leute abends alleine." Es sei somit "ein Problem, dass die Aufsicht fehlt". Jahrelang seien die Warnungen vor Lücken im Personal ignoriert worden. "Erst jetzt hat die Ministerin festgestellt, dass man doch wieder mehr Personal braucht", erläutert Arnold.

Fehlende Aufsicht in den Kasernen?

Für den Linken-Bundeswehrfachmann Alexander Neu sind die Missbrauchsfälle "systemimmanent". In abgeschlossenen sozialen Räumen mit strenger Hierarchie würden Ventile gesucht, um unter Druck Dampf abzulassen. "Noch schwieriger wird es, wenn dann noch elitäres Denken dazukommt", meint Neu. Und ganz besonders, wenn es dann in den Kasernen nach Abschaffung der Wehrpflicht nachts kaum noch Vorgesetzte gebe. Möglicherweise müssten einige Mechanismen wieder eingeführt werden, damit Ältere und Erfahrene ein Auge darauf werfen könnten, was sich in der Truppe tue.

"Ex-Trinken von zwei Litern Bier nicht mehr lustig"

Die Grünen kritisieren fehlende verlässliche Grundlagen. So sei nicht klar, ob die gestiegene Zahl sexueller Übergriffe an einer realen Zunahme der Zahl der Vorfälle liege oder Betroffene sich nun eher trauten, dagegen vorzugehen. "Die Hintergrunde müssen nun ehrlich, transparent und systematisch analysiert werden", fordert Verteidigungsexpertin Agnieszka Brugger. Eine "neue Meldekultur" hat auch der Generalinspekteur schon intern angemahnt.

Ein Teil des Problems scheint in der Tat typisch für militärische Zusammenhänge zu sein. "Belästigung gibt es überall in der Gesellschaft, davon ist die Bundeswehr ein Teil", analysiert der Wehrbeauftragte. Aber es handele sich bei der Truppe um einen besonderen Teil, weil man sich dort weniger aus dem Weg gehen könne und "gegebenenfalls auf Leben und Tod aufeinander angewiesen" sei. Möglicherweise, so vermutet Arnold, hätten manche Soldaten auch die Veränderungen in der Gesellschaft noch nicht mitvollzogen. Schließlich sei auch über Aufnahmerituale die Zeit inzwischen hinweggegangen. Sein Beispiel: "Früher mag man darüber gelacht haben, aber heute ist das Ex-Trinken von zwei Litern Bier nicht mehr lustig."

(may-)
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