Interview mit SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel "Proteste gegen Flüchtlinge sind ein Angriff auf uns alle"

Düsseldorf · Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel sprach mit unserer Redaktion über die Not der Kommunen und die Not der Flüchtlinge, den Mindestlohn und Regierungsoptionen seiner Partei.

 Partei-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel zählt zum links-pragmatischen Flügel der SPD.

Partei-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel zählt zum links-pragmatischen Flügel der SPD.

Foto: dpa, ade htf

Vor Ihrer Parteizentrale in Berlin hat es Proteste für mehr Flüchtlingshilfe gegeben. Sind Sie zufrieden mit der Politik der Koalition in dieser Frage?

Schäfer-Gümbel Die europäische Flüchtlingspolitik ist beschämend. Es ist nicht einmal gelungen, einen Kompromiss für den Umgang mit den Flüchtlingsströmen nach Europa zu finden. Auch andere EU-Länder müssen endlich mehr Verantwortung übernehmen. In Deutschland sind wir zuletzt ein ganzes Stück weitergekommen, auch bei der Entlastung der Kommunen.

Als Landespolitiker werden Sie aber wissen, dass die Städte und Gemeinden noch nicht zufrieden sind.

Schäfer-Gümbel Beim letzten Gipfel konnte für die Integration von Flüchtlingen viel erreicht werden, was Sprachkurse angeht, aber auch dass Auszubildende nicht abgeschoben werden. Richtig bleibt aber, dass die Unterbringung von Flüchtlingen eine gesamtstaatliche Aufgabe ist. Städte und Gemeinden dürfen finanziell nicht allein gelassen werden. Da werden auf den Bund und auch die Länder weitere Anforderungen zukommen.

Weil sonst die Gefahr wächst, dass an noch mehr Orten Brandanschläge verübt werden oder gegen Flüchtlinge gehetzt wird?

Schäfer-Gümbel Finanzprobleme in Kommunen dürfen niemals eine Rechtfertigung für Gewalt gegen Flüchtlinge sein. Solche Angriffe sind Ausdruck von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, den wir nicht tolerieren. Gewalt und aggressive Proteste gegen Hilfesuchende wie zuletzt im sächsischen Freital sind ein Angriff auf uns alle und unsere gemeinsamen Werte. Dagegen muss die gesamte Gesellschaft aufstehen.

Sie geben CDU-Innenminister Thomas de Maizière also recht, dass jeder Anschlag ein Anschlag auf den Rechtsstaat ist?

Schäfer-Gümbel Ja, das ist vollkommen richtig. Ich würde mir aber wünschen, dass die Union auch in praktischen Fragen gesprächsbereit wäre. Eine der Fragen, die dringend geregelt werden muss, ist die eines modernen Einwanderungsrechts. Legale Wege für Arbeitsmigration könnten auch Druck aus den Asylverfahren nehmen. Das muss endlich auch die Union verstehen.

Uneinsichtig ist der Koalitionspartner aus Ihrer Sicht auch beim Mindestlohn. Viele werten das Entgegenkommen von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) bei den Dokumentationspflichten als Einknicken.

Schäfer-Gümbel Das ist doch absurd! Der Mindestlohn gilt und fast vier Millionen Menschen haben jetzt mehr im Portemonnaie. Der Union ging es nie um Bürokratie. In Wirklichkeit haben CDU/CSU mit dieser größten Arbeitsmarktreform der letzten Jahre nicht ihren Frieden gemacht.

Fakt ist aber, dass Ministerin Nahles nun nachbessern musste und auch das Bundesverfassungsgericht hat bereits Zweifel an der EU-Konformität der Regeln etwa für ausländische LKW-Fahrer geäußert.

Schäfer-Gümbel Andrea Nahles nimmt Vereinfachungen dort vor, wo sich nach sechs Monaten gezeigt hat, dass die Missbrauchsgefahr dort nicht besteht. Bei den Änderungen geht es darum, dass der ehrenamtliche Platzwart im Sportverein nicht durch den Mindestlohn wegfallen muss und um Erleichterungen der Dokumentationspflicht etwa für Verwaltungskräfte, die über einen Zeitraum von zwölf Monaten ein Einkommen von mehr als 2000 Euro nachweisen.

Sie sind also völlig entspannt?

Schäfer-Gümbel Ja, denn an der Substanz wird nichts verändert. Der Mindestlohn gilt, er wirkt und ist kontrollierbar. Was die Verfassungsrichter angeht, rate ich zu Gelassenheit.

Wie bewerten Sie eigentlich, dass scheinbar immer mehr Gesetze vor dem Verfassungsgericht landen?

Schäfer-Gümbel Ich bin für Debatten und klare Entscheidungen im politischen Raum. Die Verlagerung vor die Gerichte ist mit Sicherheit kein guter Trend, auch wenn der Weg natürlich jedem offensteht. Ich kann alle Parteien nur aufrufen, mehr Mut zur Klarheit und zur Auseinandersetzung bei politischen Debatten zu zeigen. Das halte ich für essenziell in einer Demokratie.

Als hessischer Politiker sind Sie Experte für schwarz-grüne Koalitionen. Sehen Sie auch im Bund Chancen?

Schäfer-Gümbel Um Stillstand zu erkennen, muss man kein Experte sein, sondern nur mit offenen Augen durch die Welt gehen. Mein Eindruck ist, dass die grüne Bundesspitze sehr wohl erkennt: Der Preis, den die hessischen Grünen für die Regierungsbeteiligung zahlen, ist ihre Glaubwürdigkeit bei zentralen Identitätsthemen. Das gilt für Umwelt- und Flüchtlingsfragen, den Frankfurter Flughafen und vor allem das völlig inakzeptable Verhalten bei der Aufklärung der NSU-Mordserie und im Untersuchungsausschuss zur vorläufigen Stilllegung des Atomkraftwerks Biblis. Die Grünen stehen gegen eine Modernisierung der Infrastruktur, die CDU gegen eine gesellschaftliche Modernisierung. Unser Wohlstand wird aber nicht durch Stillstand gesichert. Diese Auseinandersetzung wird bis zur Bundestagswahl 2017 zunehmen.

Würden Sie 2017 Rot-Rot-Grün einer neuen großen Koalition vorziehen?

Schäfer-Gümbel Wir gehen unseren Weg und wollen die SPD stark machen. Unser Ziel ist und bleibt Rot-Grün. Wir müssen mehr darüber reden, was wir wollen und weniger, mit wem wir können. Auch deshalb starten wir die Perspektivdebatte zu Zukunftsfragen, unter anderem mit einem Kongress im Oktober in Mainz. Das ist für uns von zentraler Bedeutung. Außerdem glaube ich nicht, dass mit Leuten wie Frau Wagenknecht irgendetwas zu gestalten wäre.

Jan Drebes führte das Interview.

(jd)
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