Diskussion um Syrien-Flüchtlinge Thomas de Maizière — Minister der Unordnung

Berlin · Die wichtige Stütze der großen Koalition wird zu ihrer Sollbruchstelle: Bundesinnenminister Thomas de Maizière stellt das Bündnis mit einem unabgesprochenenen Kurswechsel beim Familiennachzug für Syrer auf eine neue Belastungsprobe.

Thomas de Maizière – Kanzleramtschef, Verteidigungsminister, Innenminister
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Das ist Thomas de Maizière

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Foto: dpa, nie pil his

Wer Thomas de Maizière verstehen will, muss wissen: "Ich wollte eigentlich nie Politiker werden." Plakativ hat er es an zentraler Stelle seiner Homepage hervorgehoben. So wie eine andere Grundüberzeugung: "In eine Regierungszentrale zu gehen, war exakt die Verbindung von Jura und Politik oder Wirtschaft, die ich gesucht hatte." Ist einer, der nie exponierter Politiker werden wollte und sich innerhalb einer Administration am wohlsten fühlt, der Richtige, um als Politiker die größte Nachkriegsherausforderung Deutschlands zu stemmen?

Einer, der Reden für Berlins Regierenden Richard von Weizsäcker schrieb, der die Einheit mit verhandelte, der in Mecklenburg-Vorpommern in den Staatskanzleien und Verfassungsministerien den Aufbau mit in die Hand nahm, der sieht sich selbst zunächst als jemanden, der Ordnung ins Chaos bringt, verlässlich koordiniert und auch gewaltige Herausforderungen Akte für Akte, Vermerk für Vermerk in den Griff zu kriegen versucht. Deshalb holte Angela Merkel ihn 2005 ins Kanzleramt. Deshalb gab sie ihm 2009 das Innenministerium. Und deshalb übertrug sie ihm 2011 das Verteidigungsministerium, um das vom zurückgetretenen Vorgänger Karl Theodor zu Guttenberg (CSU) entfachte Durcheinander zu ordnen.

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Foto: Endermann, Andreas

Doch da kam ihm die Fortüne abhanden. Ausgerechnet ihm, dessen Nachname beim Militär einen Vertrauensvorschuss sicherte: Vater Ulrich hatte als Generalinspekteur die Bundeswehr entscheidend mit geprägt. Doch als sich die Politik in der heißen Phase des Wahlkampfes 2013 in die Aufklärung der Drohnen-Affäre kniete, entdeckten sie eine offensichtliche Schwäche im Führungsstil des Ministers: Das Administrieren und Delegieren klappte gut, das Interessieren und Nachfassen dagegen nicht. Wer sich darauf verlässt, dass ihm Entwicklungen mit Handlungsoptionen schon rechtzeitig vorgelegt werden, der ist verlassen, wenn etwas schief läuft.

Erkennbar aus dem Tritt geriet er zudem, als er auf Geheiß Merkels Ende 2013 den Machtambitionen Ursula von der Leyens weichen musste, obwohl er gerne weiter Verteidigungsminister geblieben wäre. Doch da hatte er selbst auch schon ein Paradebeispiel dafür geliefert, wie er mit einer einzigen unbedachten Äußerung Verwirrung stiften kann: "Hört einfach auf, dauernd nach Anerkennung zu gieren", rief er "seinen" Soldaten zu. Und bei seiner Verabschiedung resümierte er, dass in der Bundeswehr "vieles nicht in Ordnung" sei.

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Foto: ALESSANDRO BIANCHI

Das Innenressort, das de Maizière nun erneut verantwortet, wird in jeder Koalition von jenen beansprucht, die Recht und Ordnung als Kern-Kompetenz pflegen. Hier haben viele den harten Hund gegeben, von Manfred Kanther (CDU) bis Otto Schily (SPD). Dagegen verstand sich Hans-Peter Friedrich (CSU) eher als "sanfter Sheriff". Ein Etikett, mit dem auch de Maizière bestens leben könnte. Wenn denn die Zeiten danach wären. Sie sind es aber nicht. Gerade aus seinem Feld heraus wachsen die Zweifel, ob dieser Staat seinen Grundverpflichtungen, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen, noch gerecht wird. Das mag de Maizières Neigung erklären, auch mal kräftiger zu formulieren und sich dadurch unwillkürlich vom Kurs der Bundeskanzlerin abzugrenzen.

Kaum lässt der Druck auf Merkel wegen der vermissten "Obergrenzen" nach, geht de Maizière mit der Forderung nach EU-Obergrenzen in die Vollen. Gerade bemühen sich Bund und Länder, die Gerüchte und Räuberpistolen über Flüchtlinge zu relativieren, geht de Maizière auf die Undankbarkeit von Flüchtlingen los, die ihre zugewiesenen Einrichtungen verließen, sich ein Taxi nähmen und "erstaunlicherweise" Geld genug hätten, um Hunderte Kilometer durch Deutschland zu fahren.

Er macht sich selbst angreifbar. Etwa mit der Behauptung, 30 Prozent der angeblichen Syrer kämen aus anderen Ländern — der die Korrektur folgt, dazu gäbe es gar keine Statistiken. Damit scheint er selbst zu belegen, warum Merkel ihm die Koordination der Flüchtlingspolitik entzog und Kanzleramtsminister Peter Altmaier übertrug. Das wirkte offenbar alles andere als motivierend für die Koordinierungsbereitschaft de Maizières

Aus wochenlangem Ringen mit Justizminister Heiko Maas (SPD) um die "Transitzonen" wusste er, wie brisant bei den Genossen weitere Einschränkungen für Flüchtlinge sind, wie sehr dadurch die Zustimmung der Grünen im Bundesrat gefährdet wird und wie sehr SPD-Chef Sigmar Gabriel darauf angewiesen ist, die Einschränkungen beim Familiennachzug auf eine ganz kleine Zahl Betroffener zu begrenzen, um die Genossen zur Zustimmung zu gewinnen. Und wie wichtig deshalb eine sorgfältige Abstimmung wäre, wenn man gleichwohl mehr wollte.

Doch offenbar weihte der Minister nur die Unions-Innenpolitiker ein, denn die gaben ihm umgehend Rückendeckung. Die SPD fiel aus allen Wolken, als er den Familiennachzug generell für alle Syrer in Frage stellte. Weil de Maizière vom Kanzleramt umgehend zur Rolle rückwärts gezwungen wurde, moderierte auch die SPD-Spitze den Konflikt herunter. Doch die Kanzlerin hat einmal mehr erleben können, wie ihre einstige tragende Stütze de Maizière zur potenziellen Sollbruchstelle der Koalition geworden ist. Mit allen Konsequenzen für de Maizières berufliche Perspektive.

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(may-)
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