SPD-Mitglieder stimmen mit Ja Diese Groko muss groß werden

Meinung | Düsseldorf · Die SPD zwingt sich in eine große Koalition, während sich der Bürger nach sechs Monaten Machtvakuum entnervt abgewandt hatte. Diese neue Koalition hat eine historische Aufgabe. Sie muss das Vertrauen der Bürger in Politik zurückgewinnen. Und zuhören.

"Schwarmintelligenz der SPD-Basis hat gesiegt"
12 Bilder

"Schwarmintelligenz der SPD-Basis hat gesiegt"

12 Bilder
Foto: dpa, fis tba

Eine beispiellose Phase in der Geschichte der Bundesrepublik geht zu Ende. Am Ende der längsten Periode ohne Bundesregierung nach dem Zweiten Weltkrieg steht erneut die große Koalition. Zum vierten Mal sollen es SPD und Union richten, auch wenn das Attribut "groß" nicht mehr zutrifft.

Sicher: Die quälende Regierungsbildung, die Taktiererei, das Postengeschacher und die politischen Kehrtwenden waren keine Werbung für die Parteiendemokratie. Aber dass nun die beiden Parteien eine Regierung bilden, die der Wähler im September vergangenen Jahres abgewatscht hat, kann man Union und SPD nur bedingt vorwerfen.

Die SPD wollte in die Opposition, und die Union wollte Jamaika. Aber nachdem sich die FDP weggeduckt hatte und sich der Bundespräsident in einem seltenen Moment operativer Einflussnahme einschalten musste, war die Groko das geringere von mehreren Übeln.

SPD-Mitgliederentscheid 2018 zur Groko: Dietmar Nietan verkündet Ergebnis
7 Bilder

SPD verkündet Ergebnis des Groko-Entscheids

7 Bilder
Foto: dpa, kno

Deutschland braucht eine stabile und handlungsfähige Regierung, die in Brüssel, Paris, Peking und Washington mit der Garantie auf Mehrheiten im Bundestag auftreten kann. Europas Staatschefs flehten die Kanzlerin geradezu an, keine Minderheitsregierung einzugehen. Sie wäre auch nicht mehr als ein spannendes Experiment für Politikwissenschaftler gewesen.

Und diese neue große Koalition ist zumindest von innen stark legitimiert. Die CDU stimmte erstmals auf einem Parteitag dem Bündnis zu. Und dass 66 Prozent der SPD-Mitglieder, die an der Wahl teilgenommen haben, für ein Ja stimmten, ist ebenfalls ein ordentliches Ergebnis. Die Debatte in der SPD hat zudem der politischen Kultur im Land gut getan.

Es geht nun also los. Aber was eigentlich? Der Koalitionsvertrag ist keine Vision für eine digitale Innovationsgesellschaft, die mutig Neuland beschreitet und die jungen Generationen im Blick hat. Aber er ist eine solide Grundlage für gutes Regieren. Schwerpunkte in der Bildungs-, wichtige Akzente in der Familienpolitik und durchaus Verbesserungen bei den Rahmenbedingungen für die Digitalisierung sind enthalten.

Entscheidend für die Bilanz dieser neuen Regierung wird aber sein, ob sie es schafft, die spürbare Distanz zwischen großen Teilen des Wahlvolkes und der Gewählten abzubauen. Das Gefühl, dass "die da oben" über alles mögliche reden, aber nicht über die tatsächlichen Probleme und Sorgen "der da unten" ist Sprengstoff in einer ohnehin polarisierten Gesellschaft.

Das Mega-Thema Integration wird im Koalitionsvertrag mit Verweis auf die De-Facto-Obergrenze eher formalistisch behandelt. Aber es treibt Millionen um, welche kulturellen Auswirkungen die Zuwanderung der Hunderttausenden aus muslimischen Ländern für die Mehrheitsgesellschaft haben könnten. Die verklemmte Sexualmoral, die Nicht-Gleichberechtigung von Frauen, die Ablehnung von Juden oder Schwulen, all das ist bei einigen (natürlich nicht allen!) der neuen Mitbürger Denkmuster und eben keine Bereicherung für unsere liberale Gesellschaft. Wann haben das Andrea Nahles oder Angela Merkel jemals so gesagt? Eine Integrationspolitik mit klarer Haltung und klarem Kompass wird bislang weder von Union noch SPD angeboten.

Reaktionen auf das Ja der SPD-Basis zur Groko
Infos

Reaktionen auf das Ja der SPD-Basis zur Groko

Infos
Foto: dpa, kno

Die Einwürfe des Ex-SPD-Finanzministers Peer Steinbrück mögen selbstherrlich und im Zeitpunkt unsolidarisch gewesen sein, falsch sind sie trotzdem nicht. Dass der Blick seiner Partei auf die Integration von "einer ehrenwerten Gesinnung getrübt" ist, zeigt sich an den Wahlergebnissen der SPD im Ruhrgebiet. In Scharen laufen gerade in den Regionen, wo sich Parallelgesellschaften gebildet haben, die Wähler zur AfD über. Und wenn die Bundeskanzlerin ein Jahr braucht, um den Angehörigen der Opfer des Terroranschlags vom Berliner Breitscheidplatz ihre Anteilnahme zu zeigen, aber im Fall der Essener Tafel ohne Kenntnis der Lage oder ein Gespräch mit den Betroffenen per Fernsehinterview oberlehrerhaft Noten verteilt, dann muss man sich über den Kompass der Kanzlerin wundern.

Wer die AfD wieder aus dem Bundestag drängen will, und das muss das oberste Ziel allen Bemühens sein, der muss natürlich die Wähler aus diesem Spektrum zurückgewinnen. Ja, was denn sonst? 1,5 Millionen Ex-SPD und Ex-Unionswähler haben im Herbst 2017 AfD gewählt. Das sind ja wahrscheinlich nicht alles dumpfe Nationalisten. Die Protestwähler gegen eine Polit-Klasse, die nicht mehr zuhören will, kann man zurückgewinnen. Mit soliden und sachlichen Antworten auf ihre Sorgen. Ohne Schaum vor dem Mund. Ohne Besserwisserei. Dann lässt sich auch besser gegen die übriggebliebenen Rassisten und Hetzer vorgehen, die die Kultur in diesem Land vergiften und Ängste auslösen.

Wenn der großen Koalition dies gelingt und sie zugleich das Land wenigstens ein bisschen modernisiert, die dramatische Lage des Wohnungsmarktes in Ballungsgebieten entschärft, die Aufstiegschancen für Hunderttausende Abgehängte im Bildungssystem verbessert und die Bedingungen für Alleinerziehende, Pflegende, Erziehende und wirklich Bedürftige erleichtert, kann diese große Koalition doch noch groß werden.

Es wäre diesem Land zu wünschen.

(brö)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort