Gedankenexperiment 2030 - eine Welt, wie sie der AfD gefällt

Düsseldorf · Wie würde ein AfD-regiertes Deutschland im Jahr 2030 aussehen? Ein fiktives Szenario auf Basis tatsächlicher heutiger Positionen der "Alternative für Deutschland".

 Frauke Petry: Heute Bundesvorsitzende der AfD, 2030 Bundeskanzlerin der BRD?

Frauke Petry: Heute Bundesvorsitzende der AfD, 2030 Bundeskanzlerin der BRD?

Foto: dpa

Im Deutschland, wie es sich die AfD wünscht, soll beim morgendlichen Kaffee im Jahr 2030 jeden das schlechte Gewissen packen, der am Abend zuvor keinen ungeschützten Sex mit seinem Ehepartner hatte. Einzige Ausnahme: Man ist durch Schwangerschaft entschuldigt. Sind wir nicht. Unsere Tochter ist fünfzehn und ich möchte keinesfalls eine weitere. Unser Kind denkt, spricht, handelt völlig anders als meine Frau, unsere Freunde und ich selbst. Durch gleichgeschaltete Medien und Lehrpläne, Musik und Filme ist sie uns vollkommen entglitten.

Die strammen Staatsrundfunk-Moderatoren mahnen mit mal mehr und mal weniger Augenzwinkern, jeder Deutsche müsse gefälligst seinen Teil beitragen gegen das "Schrumpfen des Deutsches Volks" und die akute Gefahr der Überfremdung (dass der Ausländeranteil beständig sinkt, wird nie thematisiert). Tenor: Eine Ehe ohne regelmäßigen ungeschützten Geschlechtsverkehr ist verantwortungslos gegenüber der Volksgemeinschaft, jedes Zusammenleben außerhalb der klassischen Familie aus Mann, Frau und mehreren Kindern unschicklich, ein Dasein als Single asozial.

Das Radio stelle ich trotz dieser Dauerbeschallung lieber lauter als leiser, gegen das Geschrei von nebenan: Die ungewollt schwanger gewordene Nachbarin steht vor der Wahl, das nicht gewollte Kind aufziehen zu müssen oder aber es abzutreiben — illegal, vielleicht unter Gefahr für ihr eigenes Leben, bedroht von drakonischen Freiheitsstrafen. Alle Demonstrationen pro Selbstbestimmung der Frauen waren umsonst, die AfD und ihre neokonservativen Verbündeten haben gesiegt.

Dass eine Freundin ihrer Mutter nach einer Vergewaltigung abgetrieben hatte, weiß meine Tochter nicht, aber es würde ihre Meinung wohl auch nicht ändern. Ihre Mutter, meine Frau selbst wird von unserer Tochter verachtet, weil sie arbeiten geht (Frauke Petry wird von ihr übrigens gefeiert, obwohl die auch arbeitet, als Bundeskanzlerin nämlich). Mama solle doch "froh sein, dass dieser ganze Feminismus-Quatsch" Vergangenheit sei, sagt meine Tochter, und verfällt in die Imitation einer "Frauenbeauftragten", die sich für eine "Quote" stark macht. Dass Frauen noch immer rund 20 Prozent weniger verdienten als Männer, sei unschön, aber eben eine Konsequenz der "natürlichen Geschlechterordnung", da habe der Familien-, Arbeits-, Sozial- und Medienminister Björn Höcke schon recht.

Und überhaupt: "So ein Leben als Hausfrau und Mutter kann doch auch erfüllend sein!" Darin ist sich meine Tochter mit dem Nachbarsjungen einig. Der ist auf einen Kakao herübergekommen und sieht sich, kaum dem Grundschulalter entwachsen, selbst schon als arbeitender und damit eben auch vielbeschäftigter Mann. "Hausfrauen und Mütter sind Heldinnen des Alltags", sagen die beiden Kleinen jetzt gleichzeitig, wie auf Kommando. Und ein Dasein abseits von stressigen Fabriken und Büros im heimischen Haus und Garten sei nicht nur erfüllend, sondern auch ein Dienst am Volk, wie ihn Männer eben nicht erbringen könnten — und damit heilige Verpflichtung für Frauen.

Das Pathos ist nicht ihres, es wurde ihnen eingebimst.

Meine Tochter denkt jetzt laut darüber nach, wie man die Attraktivität des Kinderkriegens weiter erhöhen könnte, und kommt auf eine öffentliche Auszeichnung mehrfacher Mütter, mit Fotos und Videos bei Facebook und in den Medien der Alten. "Hervorragend, ein Mutterkreuz 2.0!", fällt mir dazu nur ein. Das sei "hysterisch" und "unsachlich", antwortet sie kühl, und außerdem gäbe es dazu gar keinen Parteibeschluss, das sei nur ihr persönlicher Vorschlag. "Aber es gibt ja auch 2030 immer noch Denkverbote!", klagt sie. "Und immer mit der Nazikeule." Die vermutet sie hinter jeder Kritik.

Was ein Mutterkreuz war, weiß sie nicht und wird es wohl auch nicht mehr lernen. Wie mehr oder weniger ihre ganze Generation. Die Forderung von Seite 1 des heute als historischer Durchbruch gefeierten Wahlprogramms der AfD Sachsen-Anhalt von 2016 ist längst umgesetzt, auch auf Bundesebene. Alle Lehrpläne wurden überarbeitet, und zwar gründlich — weg von der "einseitigen Konzentration auf zwölf Unglücksjahre unserer Geschichte", die viel zu lange den Blick verstellt habe auf all das Gute, was davor und danach auf deutschem Boden passiert ist.

Aktuell, so munkelt man, sei eine weitere Reform in Planung. Im stark geschrumpften Zeitfenster der schulischen Beschäftigung mit der NS-Zeit solle bald vermehrt das "am deutschen Volk begangene Unrecht" Thema sein. Im Krieg durch die Bombardements der Zivilbevölkerung (vom Neonazi-Begriff "Bomben-Holocaust" distanziert sich die AfD ausdrücklich), aber auch danach: die "Sippenhaft", die mit "moralischem Zeigefinger aufgezwungene Demutshaltung der Siegermächte" gegenüber dem "bösen Deutschen". Unser hart erarbeitetes Geld aber hätten sie dabei aber immer gern eingestrichen, die Schmarotzer in Südeuropa, schwadroniert meine kleine Tochter. Damals, zu den Zeiten des "Euro" (sie spricht es aus wie eine ansteckende Krankheit), vor der Wiedereinführung der D-Mark. Wie ein Roboter spricht sie die Phrasen nach, die ihr in der Schule und den Medien vorgesagt werden, über den "Debattierklub UN" und das "undemokratische Monstrum 'EU'" mit seinem "linksgrün-versifften Irrsinn der offenen Grenzen" und der "Asylantenflut", die "doch Anfang 2016 sogar zu einem Bürgerkrieg geführt hat, mit Straßenschlachten in ganz NRW. Da ist sie sich sicher. Meine zunehmend verzweifelten Versuche ihr zu beweisen, dass nichts dergleichen passiert ist, dringen nicht zu ihr durch.

Wenn heute in den "reformierten" Schulen oder Medien überhaupt noch die Rede von der größten Zäsur der deutschen, wenn nicht der Welt-Geschichte ist ("olle Kamellen" nennt meine Tochter den Zweiten Weltkrieg samt Holocaust), dann mit Verweis darauf, dass an der NS-Zeit bloß ein paar wenige arme Irre Schuld gewesen seien. Das Volk habe sich lediglich verhalten, wie es die "klassisch preußischen Tugenden Geradlinigkeit, Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit, Disziplin, Pünktlichkeit, Ordnungssinn, Fleiß und Pflichtbewusstsein" verlangten. Die seit der Neuausrichtung der Bildungspolitik längst ebenfalls wieder höchste Wertschätzung genießen — wie einst versprochen im Wahlprogramm für Sachsen-Anhalt 2016, Seite 14.

Ebenso plappert sie über die Reform des Kulturbetriebs der 2010er Jahre. "Entartete Kunst" sei das gewesen, nur dürfe man das ja leider nicht so nennen, habe ihre Lehrerin gesagt. Wegen der ewigen Nazi-Keule. Und der ewigen SED-Keule. Nur weil die DDR-Einheitspartei bis zuletzt die letzte gewesen war, die Theatern, Museen und Orchestern vorgeschrieben hatte, dass sie gefälligst einen "positiven Bezug zur eigenen Heimat zu fördern" und "stets auch klassische deutsche Stücke" aufzubieten hätten, und zwar gefälligst so inszeniert, "dass sie zur Identifikation mit unserem Land anregen" (AfD-Wahlprogramm Sachsen-Anhalt 2016, Seite 24). Dass diese "patriotische Pflicht" flugs auf Popmusik, Film und Fernsehen ausgedehnt wurde, war keine große Überraschung.

Hach, unser Land. Auf Deutschland sei sie stolzer, als ich es wohl je gewesen wäre, sagt meine Tochter. Dass 2015 nicht nur unser Gewissen besser gewesen sei, sondern auch unser Wohlstand sehr viel höher, weil "Made in Germany" noch ein Gütesiegel war und nicht wie heute reinste Antiwerbung, glaubt sie nicht. "Propaganda" nennt sie so ziemlich alle staatlichen wie auch journalistischen Quellen von vor ihrer Zeit. "Lügenpresse!" quietscht sie ironisch und zugleich in vollem Ernst. Die große Zeit von CDU und SPD ist lange her für sie und noch viel weiter weg. Die Zeit, bevor wir die Grenze dicht machten, einen Zaun bauten ("Der nichts, aber auch gar nichts mit der Mauer um diese DDR damals zu tun hat, Papa!"), das Militär zu dessen Sicherung schickten und eine Allianz mit dem Neurussischen Reich schmiedeten, woraufhin auch der kümmerliche Rest des durch Zölle belasteten Exportgeschäfts in den Rest der Welt zusammenbrach.

Und selbst wenn — die Vorteile des Lebens in Neudeutschland lägen doch auf der Hand: Der heutige Staatsrundfunk sei allemale volksnäher, ehrlicher, besser als die angeblich staatsfernen, unabhängigen, kritischen "öffentlich-rechtlichen" Sender anno 2015. Ausländer, Muslime, Schwule, Behinderte lebten in ihren eigenen Vierteln, mit weniger Rechten und Sozialleistungen natürlich. Kaum noch käme ihr einer unter die Augen.

Schwere Fälle von Tierquälerei würden endlich mit der Todesstrafe geahndet. Das Steuersystem sei so genial einfach: 25 Prozent für jeden, und fertig! "Wie unnötig war bitte euer Papierkrieg damals?" Und es reiche ja auch, seit Zwangsarbeit Trumpf sei statt Hartz IV. Strom und Benzin seien billiger, seit die AfD den ganzen "Öko-Quatsch" ausgemerzt habe. Viel wärmer als zu meiner Zeit sei es auch — "ist doch geil! Wenn am anderen Ende der Welt die Leute angeblich ersaufen — so what?".

Und auf der guten alten Autobahn gebe es keine Tempolimits mehr, nirgendwo.

(tojo)
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