70 Jahre nach Kriegsende Erinnerungskultur für Vertriebene

Düsseldorf · Erinnern an das NS-Grauen heute, 70 Jahre nach Kriegsende, schärft das kollektive Gedächtnis der Nation. Wer denkt an die 14 Millionen deutschen Vertreibungsopfer? Denkmäler für sie gibt es immerhin mehr als 1500.

 Kranzniederlegung am Vertriebenendenkmal in Erfurt vor fünf Jahren, am 5. Mai 2010.

Kranzniederlegung am Vertriebenendenkmal in Erfurt vor fünf Jahren, am 5. Mai 2010.

Foto: Stephan Scholz

In diesen Tagen des Erinnerns an das Kriegsende vor 70 Jahren und des würdevollen Gedenkens der millionenfachen Ermordung jüdischer Menschen in Hitlers Einflussbereich geht eine andere gebotene Rückschau leicht unter: die Tragödie von Flucht und Vertreibung von mehr als 14 Millionen Deutschen aus den alten deutschen Ostprovinzen.

Angesichts der Monstrosität des Holocausts, für den Chiffren wie Auschwitz, Bergen-Belsen oder Dachau stehen, ist die Hintanstellung von Flucht und Vertreibung nachvollziehbar. An ein Menschheitsverbrechen wie die systematisch betriebene, nur knapp misslungene Ausrottung eines ganzen Volkes reicht, was den Unrechtsgehalt betrifft, keine noch so schändliche Tat heran. Dennoch lag Bundeskanzlerin Angela Merkel 2009 bei ihrer Rede zum "Tag der Heimat" richtig, als sie feststellte: "Die Geschichte von Flucht und Vertreibung geht uns alle an. Sie ist Teil unserer nationalen Identität und unserer gemeinsamen Erinnerungskultur." Merkel fuhr damals fort, dass zu einem Gedenken nach den Maßstäben von Klarheit und Wahrheit auch die Erinnerung an das Unrecht der Vertreibung gehöre.

Der frühere CDU-Landtagsabgeordnete Rüdiger Goldmann, nordrhein-westfälischer Vizechef der ost- und mitteldeutschen Landsmannschaften in der Union, hat noch andere Phasen der deutschen Nachkriegsgeschichte in Erinnerung: Phasen, in denen den Heimatvertriebenen Spott und Feindschaft entgegenschlugen, in denen man ihnen vorwarf, sie betrieben als kalte Krieger und Entspannungsfeinde Geschichtsrevisionismus. Es kam in politisch linken Kreisen auch zu Hasstiraden gegen Heimatvertriebene, deren Repräsentanten und deren Wunsch, man möge sich auch zu dieser deutschen Nachkriegs-Identität bekennen. Es war Bundesinnenminister Otto Schily (1998 - 2005), der in einer denkwürdigen Rede am 29. Mai 1999 im Berliner Dom Abbitte bei den Heimatvertriebenen leistete. Schily sagte seinerzeit etwas, was ihm die Vertriebenen bis heute hoch anrechnen: "Die politische Linke hat in der Vergangenheit zeitweise über die Vertreibungsverbrechen, über das millionenfache Leid, das den Vertriebenen zugefügt wurde, hinweggesehen, sei es aus Desinteresse, sei es aus Ängstlichkeit vor dem Vorwurf, als Revanchist gescholten zu werden."

Rüdiger Goldmann beklagt trotzdem, dass es Mitglieder der Vertriebenenverbände auch heute nicht leicht hätten, mit ihren Anliegen wahrgenommen zu werden, die deutsche Geschichte lückenlos zu würden, also einschließlich der Vertreibungs-Tragödie. Dass diese Tragödie Folge des Kriegsterrors war, mit dem der Nazi-Staat Nachbarländer niedergetrampelt, Menschen versklavt und liquidiert hatte, ist längst jedem klar, der sich für eine umfassende Erinnerungskultur einsetzt. Obwohl auch hier und dort Geschichtsverfälscher am Werk zu sein scheinen, für die immer noch gilt, was jüngst der Münchner Erzbischof, Reinhard Kardinal Marx, bei der Eröffnung des neuen NS-Dokumentationszentrums in München so formulierte: "Bis heute gibt es viele, die sich der Geschichte nicht stellen wollen, die sie verdrehen." Diese Haltung, so der Kirchenmann, sei eine Quelle der Gewalt.

Keine Gewalt, nicht einmal eine solche in Bildern oder von steinerner Symbolik, stellen die 1584 Vertriebenen-Denkmäler dar. Die Mehrheit befindet sich auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik; seit der Wiedervereinigung jedoch wurden sie auch in den neuen Bundesländern errichtet. In der DDR war das Gedenken an Flucht und Vertreibung weitgehend verpönt. Der sozialistische Staat nannte die mehr als 14 Millionen Vertriebenen, von denen geschätzt bis zu zwei Millionen durch Gewalt, Hunger und Entkräftung zu Tode gekommen waren, furchtbar beschönigend "Umsiedler".

Der Oldenburger Historiker Stephan Scholz hat mit seiner klugen und detailreichen, im Schöningh-Verlag erschienenen Arbeit "Vertriebenendenkmäler" (440 S., 49,90 Euro) die bebilderte "Topographie einer deutschen Erinnerungslandschaft" vorgelegt. Scholz kommt zu dem Schluss, dass in der Nachkriegs-Bundesrepublik die öffentliche Erinnerung an die Tragödie, die eine erzwungene Völkerwanderung darstellte, nie ein Tabu gewesen sei. Ob die Erinnerung an die Zwangsmigration der Deutschen nach 1945 zu einer Sensibilisierung für Flüchtlingsfragen der Gegenwart führt, wie Scholz zu bedenken gibt, erscheint so, als sei der Wunsch der Vater des Gedankens. Scholz schreibt nämlich auch, dass schon heute die Verengung auf die deutsche Opferschaft in vielen Denkmälern dazu führe, dass sie mancherorts Rechtsextremisten als Orte für politische Demonstrationen dienen.

In Berlin entsteht derzeit eine zentrale Erinnerungsstätte zum Gedenken an Flucht, Vertreibung und - ganz wichtig im zusammenwachsenden Europa - mit dem Ziel der Versöhnung. Der Bund der Vertriebenen, insbesondere die streitbare Präsidentin Erika Steinbach, hat dafür jahrelang gegen Widerstände in Deutschland, Polen und Tschechien gekämpft. Die Erinnerung an den Holocaust hat zentrale Bedeutung für unser kollektives Gedächtnis. Es hat nicht mit Verrechnung, sondern mit nationaler Identität zu tun, wenn der Opfer von Flucht und Vertreibung gedacht wird.

(RP)
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