Analyse Nordrhein-Westfalens Schulsystem ist zu kompliziert

Düsseldorf · Der "Schulfrieden" in NRW hat endlose ideologische Schlachten beendet. Andererseits hat er dem Land auch ein ziemlich unübersichtliches Schulsystem eingebracht. Für die nötige zweite Bildungsrevolution braucht es aber mehr Klarheit.

 Am Schulsystem sind manche Eltern schon verzweifelt.

Am Schulsystem sind manche Eltern schon verzweifelt.

Foto: dpa, jg fpt

In Hunderttausenden nordrhein-westfälischen Familien wird in diesen Wochen wieder eine Entscheidung getroffen, die einen ganzen Lebenslauf (mit)bestimmt: Welche Schule soll es sein? Sechs weiterführende Schulformen bieten sich an - Haupt- und Realschulen (deren Zahlen stark sinken), Gesamtschulen, Gymnasien sowie Sekundar- und Gemeinschaftsschulen, in denen die Kinder bis mindestens Klasse sechs gemeinsam lernen. Gemeinschaftsschulen, entstanden aus einem Schulversuch, müssen sich bis 2020 in Sekundar- oder Gesamtschulen umwandeln.

Wenige Bundesländer bieten eine ähnlich breite Palette. In NRW resultierte der bisher letzte Schritt zur großen Vielfalt aus einer überraschenden Interessenallianz: Die grüne Schulministerin Sylvia Löhrmann wollte mehr längeres gemeinsames Lernen - das passte vielen Bürgermeistern vor allem auf dem Lande gut. Denn weil die Schülerzahlen sinken, brauchen die Kommunen gute Ideen, um als Schulstandort attraktiv zu bleiben. Und dazu braucht es eben Schulen, die einen Weg zum Abitur zeigen, wie es Gesamt- und Sekundarschulen tun.

Das Problem ist nur: Wirklich in die Zukunft weist ein solches System nicht, weil es zu kompliziert, also unattraktiv ist. "Langfristig ist das nicht vermittelbar", sagt etwa Olaf Köller, Bildungsforscher an der Uni Kiel, und fügt hinzu: "Die Messe ist längst gelesen - der Trend geht in Richtung Zweisäulenmodell."

Bei Eltern ist Kompatibilität gefragt. NRW tut also schon aus Eigeninteresse gut daran, ein Modell zu entwickeln, das mit dem anderer Länder besser vergleichbar ist. Zweigliedrige Systeme nach der Formel "Gymnasium plus x" gibt es schon (siehe oben). Anderswo, zum Beispiel in Rheinland-Pfalz, sinkt die Zahl der Schulformen.

Und NRW? Hat seit 2010 sein Angebot ausgebaut. Für Löhrmann ist das auch gut so: "Die Vielfalt unserer Schullandschaft ist doch ihre Stärke", sagt sie: "Vielerorts gibt es doch nicht all diese Schulformen nebeneinander." Entscheidend seien Inhalte, nicht Formen.

Es braucht mehr Qualifikation

Eine Strukturdebatte gibt es derzeit hierzulande nicht. So haben es Rot-Grün und CDU 2011 im "Schulfrieden" vereinbart und damit endlose Ideologieschlachten fürs Erste beendet. Die lange Friedenspflicht bis 2023 lähmt NRW allerdings in Sachen Verschlankung. Was einmal ein Segen war, könnte sich mit der Zeit als Nachteil erweisen. Von einer "gesetzlichen Fesselung" spricht Experte Köller.

Das ist die eine, sozusagen die bildungspsychologische Herausforderung. Die andere, eine ökonomisch-handfeste, hat im vergangenen Jahr die Prognos-Studie "NRW 2030" unter dem sperrigen Stichwort "Erwerbspersonenpotenzial aktivieren" zusammengefasst. Gemeint ist: Nötig sind mehr hohe Abschlüsse für die moderne Dienstleistungsgesellschaft. Das setzt hohe Übergangsquoten ans Gymnasium und an die Hochschulen voraus. Oder anders gesagt: Auch die zweite Säule müsste einen klaren (vermutlich neunjährigen) Weg zum Abi bieten.

Eine gigantische Herausforderung

Von den Studienautoren gab es deshalb Lob für die Bemühungen der Landesregierung, beim Übergang zwischen Schule und Beruf "keinen Schüler ,ins Leere laufen zu lassen'". Tatsächlich liegt NRW bei der Quote von Schulabbrechern im Mittelfeld der Bundesländer.

Unterm Strich bleibt an Rhein und Ruhr eine gigantische Herausforderung: neue Akzeptanz für unsere Schulen zu schaffen und zugleich eine Art zweite Bildungsrevolution in Gang zu setzen, um das System für neue Schichten zu öffnen, vor allem für die Migranten, deren Chancen noch zu sehr von ihrer Herkunft bestimmt werden.

Lässt sich ein solcher Quantensprung ohne Qualitätsverlust bewerkstelligen? "Klare Standards sichern das Niveau", verspricht Löhrmann. Köller ist skeptisch: "Zwar steigen die Leistungen. Das heißt aber nicht, dass auch die Leistungsfähigkeit steigt. Wir erleben jetzt schon eine Debatte, ob das Abi wirklich noch eine Hochschulreife ist." Köller hält deshalb sogar eine neue Diskussion um schärfere Auswahl für möglich: "Es könnte klug sein, langfristig den Zugang zum Gymnasium zu begrenzen, um die zweite Säule nicht auszutrocknen."

(fvo)
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