Analyse Merkels bittere Wahrheiten

München · Mal eben nach Kiew und Moskau jetten und dann in Washington den Ukraine-Frieden festzurren? Das sind nicht die Dimensionen, in denen Angela Merkel denkt. In München macht die Kanzlerin bei der Sicherheitskonferenz klar, dass sie in Generationen denkt - notgedrungen: die Gegenwart ist einfach zu deprimierend.

Münchener Sicherheitskonferenz - die wichtigsten Aussagen
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Die wichtigsten Aussagen von der Münchener Sicherheitskonferenz

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Foto: dpa, tha fdt

Vereinbarungen seien gebrochen, das Völkerrecht verletzt, gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker verstoßen worden, sagt die deutsche Kanzlerin bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Wenig später scheint Russlands Außenminister Sergei Lawrow mit ihr übereinzustimmen. Auch er spricht davon, dass Vereinbarungen gebrochen, Minderheitenrechte verletzt und gegen das Selbstbestimmungsrecht verstoßen worden sei. Merkel indes meint Russland und die russischen Separatisten, Lawrow, die Ukraine und den Westen.

Wer Schwierigkeiten gehabt haben sollte, Gespräche zwischen Merkel und Russlands Präsident Wladimir Putin nachzuvollziehen, die sich zwei, drei Stunden nicht um Lösungen drehen sondern schon an dem Versuch scheitern, sich darauf zu verständigen, worüber man überhaupt spricht,bekommt bei diesem Zusammenprall der West-Ost- und der Ost-West-Sichtweise lebhaften Anschauungsunterricht.

Sie ist einfach vorgeprescht

Nach Lawrows Reaktion auf Merkels Aufschlag ist Merkels sehr gedämpfte Hoffnung auf eine Annäherung in Sachen Ukraine nur verständlich. Sie räumt ein, dass die Abfolge von Vereinbarungen und ihrem Bruch, neuen Vereinbarungen und neuen Missachtungen zu einer Mega-Frustration führen. Deshalb hat sie auch Verständnis für die inneramerikanische Debatte über die Lieferung von "Defensivwaffen" an die Ukraine, damit deren Streitkräfte gegen die von Russland hochgerüsteten Separatisten bestehen können. Aber sie lehnt das leidenschaftlich ab, und das findet sowohl bei ihrem Koalitionspartner SPD als auch bei der Opposition lebhaften Beifall.

Merkel hat nicht den Europäischen Rat in der nächsten Woche abgewartet, um in breiten und langen Diskussionen eine gemeinsame Haltung zu finden. Sie ist mal wieder einfach nach vorne gegangen und hat mit Frankreichs Präsident Francois Hollande die EU-Position festgezurrt. Östliche Bündnispartner opponieren nicht wirklich dagegen, formulieren lediglich vorsichtig Fragen. Was denn mit einem Konflikt passiere, wenn die eine Seite Spezialkräfte und modernste Waffen habe und die andere Freiwillige und Gewehre der 70er Jahre, will Estlands Präsident Toomas Ilves wissen. Und: Ob man dann die Ukraine aufgebe?

"Das ist die bittere Wahrheit"

Der britische Geheimdienstausschuss-Chef Malcom Rifkind sagt es deutlicher und bezieht sich dabei in Deutschland auf Friedrich den Großen: Ob nicht Diplomatie ohne Waffen so sei wie Musik ohne Instrumente? Aber Merkel steht auch nach weiteren Versuchen, sie aus der Reserve zu locken, fest zu ihrer Haltung gegen jede Waffenlieferung in die Ukraine. Es glaube doch nicht ernsthaft jemand daran, die russischen Streitkräfte auf ukrainischem Territorium besiegen zu können, gibt sie zu bedenken. "Militärisch ist das nicht zu gewinnen, das ist die bittere Wahrheit", unterstreicht sie immer wieder.

Die bittere Wahrheit ist auch, dass die jüngste Merkel-Hollande-Friedensinitiative auch am Samstag noch weit vom Durchbruch entfernt bleibt. Es gibt zwar hinter den Kulissen weitere Verhandlungen mit Ukraines Präsident Petro Poroschenko, US-Vizepräsident Joe Biden und Lawrow, auch halten sich die Diplomaten bereit, weiter an einer Neuformulierung des Minsker Waffenstillstandsabkommen zu arbeiten. Biden lässt die Konferenz eine dreiviertel Stunde warten, weil er aus wichtigen Gesprächen und Telefonaten nicht rechtzeitig herauskommt. Sonntag wollen Merkel, Putin, Hollande und Poroschenko noch einmal telefonieren, doch ob Merkel dann mit einer tatsächliche dauerhaft eingehaltenen Feuerpause in der Tasche zu US-Präsident Barack Obama nach Washington fliegt, erscheint äußerst fraglich.

Zwei völlig unterschiedliche Wahrnehmungen derselben Sache

Das hat auch damit zu tun, dass die westlichen Sicherheitsexperten zwar mit Lawrow in einem Saal sind, dass sie aber zwei völlig verschiedene Wahrnehmungen von der Welt und ihren Krisen haben. Und sie sehen das auch selbst: Europa und die USA wollten die Ukraine-Krise lösen und dann die strategische Ausrichtung der Beziehungen zu Russland klären, analysiert Lawrow. Dabei müsse es umgekehrt sein. Erst müsse der Westen klären, ob er eine Sicherheitsarchitektur mit, ohne oder gegen Russland wolle. Und natürlich müsse Kiew direkt mit den Separatisten verhandeln.

Und dann holt er nach einem Hagelsturm von Vorwürfen zum Gegenschlag aus. Amerikaner und Europäer sähen nicht die rassistischen Bestrebungen ukrainischer Gruppen, sie hätten von Anfang an einen verfassungswidrigen Staatsstreich unterstützt und akzeptierten auch nicht, dass sich die Bewohner der Krim nur auf ihr Recht auf Selbstbestimmung berufen hätten. Dem sei ein Referendum vorangegangen. Das habe es nicht im Kosovo gegeben und nicht auf dem Weg zur deutschen Einheit.

Merkel staunt über die schnellen Zweifler

Lawrow ist nicht der einzige, der Deutschlands Wiedervereinigung als Vergleich heranzieht. Merkel tut es auch. Als Zeitspanne für friedliche Lösungen. Also 40 Jahre. Sie wirbt für Geduld, für immer wieder neue Verhandlungsanläufe nach jedem neuen Fehlschlag. Sie sei "erstaunt, wie schnell wir verzagt sind", dass man schon nach wenigen Monaten an der Wirksamkeit von Sanktionen zu zweifeln beginne. "Ich bin überzeugt davon, dass wir mit unseren Prinzipien siegen werden", aber dafür brauche es einen "langen Atem", versichert die Kanzlerin. Auch das Projekt, Afghanistan zu befrieden sei ein "Generationenprojekt" und dürfe nicht aus den Augen verloren werden.

Auch Poroschenko hört es, aber er steht unter Druck der täglich neuen Landgewinne der Separatisten und der Erwartungen seiner Wähler. Er verweist darauf, dass seit April 5638 Ukrainer getötet worden seien. Deshalb sei es höchste Zeit, ihm endlich "defensive Waffen" zu liefern.

Biden liegt mit der Kanzlerin auf einer Wellenlänge

Spätestens jetzt weiß Merkel sicherlich, was sie Montag mit Obama zu besprechen haben wird.. Zumal sie in den beginnenden US-Vorwahlkampf hineingerät, in dem es auch um Sicherheit und um Stärke gegenüber den russischen Herausforderungen geht. Vizepräsident Biden lässt jedenfalls erkennen, dass Merkels Meinung ein wichtiges Maß für die amerikanischen Entscheidungen ist. Er unterstützt ihre Strategie, immer wieder an die gemeinsamen Prinzipien von der Unverletzlichkeit der Grenzen und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker zu erinnern und darauf zu bestehen.

Die US-Präzisierung dazu lautet: Kein Staat habe das Recht, "Einflusszonen" zu beanspruchen und andere Staaten davon abzuhalten, über ihre Bündniszugehörigkeit selbst zu bestimmen. Biden greift auf Merkels Hinweis auf Sanktionen auf: Putin habe eine einfache Entscheidung zu fällen: Abzug aus der Ukraine oder wachsende wirtschaftliche Kosten in seiner Heimat.

Hinter den Kulissen offenbart sich ein Blick in den Abgrund

Wenig später deutet die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaitean, dass die Wirklichkeit über Merkels Position längst hinweggegangen sein könnte. "Wir unterstützen die Ukraine mit allen Mitteln und wir werden das auch weiter tun", sagt sie. Hinter den Kulissen macht sich derweil eine Mischung aus Enttäuschung und böser Vorahnung breit, was passieren könnte, wenn auch die jüngste Initiative Merkels scheitert. Stolpert die Welt dann in eine neue große Kriegsgefahr hinein?

In München lässt auch Merkel einen Blick in potenzielle Abgründe erahnen. Sie könne sich nicht vorstellen, dass Putin die Befürchtung haben müsse, gegen eine militärisch aufgerüstete Ukraine zu verlieren, "es sei denn", sagt Merkel, und bricht ab. Nein, "über dieses ,Es sei denn' möchte ich nicht reden", sagt sie - und lässt damit erkennen, welche Eskalationen sie insgeheim noch für möglich hält.

(may-)
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