Analyse 10.315 Tage nach dem Fall der Mauer

Berlin · Am heutigen Montag ist die Mauer so lange Geschichte, wie sie zuvor Realität war. Diese historische Monstrosität mitten in Deutschland war nicht so unüberwindlich, wie sie schien. Eine Bilanz zwischen Ernüchterung und Genugtuung.

 Menschen feiern 1989 den Fall der Mauer in Berlin (Archiv).

Menschen feiern 1989 den Fall der Mauer in Berlin (Archiv).

Foto: dpa

Die Mauer ist im Kopf. Bei jedem, der in den 60er, 70er oder 80er Jahren aufwächst. Tag für Tag, Jahr für Jahr. Gefühlt auch Generation für Generation. Da können sich die VW Käfer zu VW Golf wandeln: Die Mauer steht. Da können die Petticoats Hotpants und Leggins weichen: Die Mauer steht. Da kann das Schwarz-weiß-Fernsehen bunt und privat werden: Die Mauer steht. Aber inzwischen längst nicht mehr: Am heutigen Montag ist es 10.315 Tage her, dass die Mauer fiel. Ebenso lang war der Zeitraum seit ihrer Erbauung gewesen - oder anders gesagt: Heute ist die Mauer so lange Geschichte, wie sie Realität war. Bedeutet das ab morgen den endgültigen Sieg der Gerechtigkeit über monströse Unmenschlichkeit?

Es gibt dazu viele Zugänge. Mehr als 100.000 DDR-Bewohner haben während der Mauerzeiten von 1961 bis 1989 versucht, von Ost nach West zu gelangen. So wie es Millionen gelungen war, als es die Mauer noch nicht gab. Aus der Perspektive der Mauerbauer bestätigt der Fall ihren Zweck: Sie war gebaut worden, um ein Kollabieren der DDR durch Massenflucht zu verhindern. Als sie fiel, fiel auch die DDR.

Das beleuchtet zugleich, dass die Mauer viel mehr war als 167,8 Kilometer Betonabsperrung in Berlin und 1378 Kilometer streng bewachter Grenze mitten durch Deutschland. Die Mauer war anfangs brutale Entschlossenheit, ein politisches System zu stabilisieren, dem die Untertanen in Scharen davonliefen und dem es egal war, dafür das Bild eines riesigen Gefängnisses zu liefern. Bis heute ungezählte, aber Hunderte von Mauertoten hielten dieses Bild wach.

Die Mauer war jedoch auch der manifeste Nachweis, dass sich eine Betonkopfideologie festsetzen und sich ein weltweit anerkanntes, scheinbar modernes Image geben kann. "Schandmauer" war die Vokabel der 60er Jahre. Sie wurde in den 70ern ersetzt durch das Wort "Entspannung". Es war mehr als ein optischer Befund, dass vom Osten scharf bewachte Grenzbefestigungen mit freiem Schussfeld an einer unüberwindlichen Betonwand endeten und vom Westen graffitiübersäte Wände den Anschein von Harmlosigkeit erweckten.

Die scheinbare Unverrückbarkeit der Mauer bewirkte auch, dass die Systemgrenzen unveränderlich erschienen, und begünstigte ein verändertes Denken über den anderen Staat. Das Modell von Wohlstand und Freiheit im Westen wurde angesichts vieler Schwächen und Unzulänglichkeiten kritisch hinterfragt. Dagegen präsentierte sich die "demokratische" Republik scheinbar gefestigt mit einer gesteuerten Modernisierung, die ihren Bewohnern ebenfalls viele Freiheiten einräumte: Sie schienen frei von Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit zu sein, frei von Terrorismus und am Strand sogar frei von Konventionen beim Massenphänomen FKK.

Es waren nicht wenige, die diesen Sozialismus als real existierende Willkürherrschaft erlebten und erlitten. Aber der Apparat funktionierte auch dank der Mauer so gut, dass diese Perspektive es immer weniger in den Mainstream westlicher Meinungen schaffte.

Zehntausend Tage Mauer waren zehntausend Tage Realität zweier Gesellschaftssysteme, die einander das Gefühl vermittelten, etablierte und stabile Staaten zu sein. Sie ankerten einerseits fest im westlichen, andererseits fest im östlichen Bündnis. Der Gegensatz schien nicht Demokratie und Diktatur, nicht Entscheidungsfreiheit und sowjetische Hegemonie. Ost und West erschienen wie zwei Siedlungsgebiete rechts und links eines Bergkamms.

Der Blick auf die Mauer wird von zwei Sätzen geprägt, die heute als Fake News allerersten Ranges bezeichnet würden. Der eine stammt aus dem Jahr des Mauerbaus vom damaligen DDR-Machthaber Walter Ulbricht: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten." Es war eine zynische Verleugnung bevorstehender Handlungen. Der andere Satz stammt aus dem Jahr des Mauerfalls vom damaligen DDR-Machthaber Erich Honecker: "Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt sind."

Keine zehn Monate später waren die Mauer und die Macht des Regimes beseitigt, weil Moskau das so wollte und das Volk keine Angst mehr hatte. Es entstanden die unvergesslichen Momente der Massen, die sich in den Armen liegen, und einer bald wiedervereinigten Nation, die der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, auf die Formel vom "glücklichsten Volk der Welt" brachte. Für die Wissenschaft, die über Jahrzehnte die Welt entlang der Systemgegensätze und der Ost-West-Konfrontation analysiert hatte, war das "Ende der Geschichte" (so 1992 der US-amerikanische Politologe Francis Fukuyama) gekommen. Der wirtschaftliche und politische Liberalismus hatte gesiegt. Damit schienen alle Fragen geklärt. 10.315 Tage später wissen wir: Die Geschichte geht weiter. Auch die Geschichte der ideologischen Kämpfe. Der Liberalismus wird attackiert vom Islamismus. Und der Populismus schafft es, im Land, das sich als Leuchtturm der Freiheit versteht, ernsthaft Begeisterung für die Idee zu wecken, eine riesige Mauer zu bauen.

So bleibt nach 10.315 Tagen für diejenigen, die damals glaubten, auch ihre Kinder und Enkel würden noch mit der Mauer leben müssen, eine große Genugtuung. Nämlich die Frage ebendieser Kinder und Enkel: "Sag mal, was war eigentlich die DDR?"

(may-)
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