Flüchtlings-Debatte Man wird ja wohl noch sagen dürfen

Düsseldorf · In der Flüchtlings-Debatte wird nicht alles gesprochen, was gedacht wird. Die Vorsicht führt zu sprachlichen Verrenkungen und veranlasste Bayerns Ministerpräsident Seehofer dazu, Ideen hinter verschlossenen Türen zu äußern.

 Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern warten in Rosenheim darauf, registriert zu werden.

Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern warten in Rosenheim darauf, registriert zu werden.

Foto: dpa, geb htf

Wir brechen uns mal wieder gehörig einen ab. Das ist recht salopp formuliert - und diesmal mit Bedacht. Weil es um unsere Sprache geht und all die linguistischen Verrenkungen, mit Worten der Flüchtlingsdebatte gerecht zu werden und eine Norm zu erreichen, die man "politisch überkorrekt" nennen könnte.

So haben wir schon vor geraumer Zeit sogenannte Menschen mit Migrationshintergrund erfunden, eine Bevölkerungsgruppe, zu der - streng genommen - alle zählen. Zumindest hat es dieses Wort schon auf die Vorschlagsliste zum "Unwort des Jahres" gebracht. Doch gut gemeint ist auch in diesem Fall nicht unbedingt gut gemacht.

Das Problem mit dem Anstieg der Flüchtlinge in Deutschland hat eine Nomenklatur hervorgebracht, die sich moralisch vielleicht sehen lassen kann, von deren Gebrauch aber abzuraten ist. Zu den Höhepunkten zählt ein 21 Seiten umfassendes Glossar von Medienmachern, die den sprachlosen Deutschen Formulierungshilfen an die Hand geben wollen. Besonders innovativ sind die Sprachschöpfer für jene geworden, die, mal ganz einfach gesprochen, hier leben. Das Wörterbuch unterscheidet indes den "Biodeutschen" vom "Passdeutschen", den Einwanderer vom Zuwanderer und den Ausländer vom Neubürger. Die diagnostizierten Parallelgesellschaften haben Zuwachs bekommen durch konstruierte Parallelsprachen.

Rund ums Thema Migration kommt es inzwischen aber nicht ausschließlich darauf an, was gesprochen wird, sondern auch, was nicht gesagt wird. Alles Unausgesprochene sammelt sich in einem Becken der nicht ungefährlichen Selbstzensur. Tatsächlich Gemeintes wird oft hinter vorgehaltener Hand verlautet und hinter verschlossenen Türen. Wie jetzt sogar Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer, der sich seinen Wählern bestimmt nicht als Sozialromantiker andienen muss.

In einer nichtöffentlichen Kabinettssitzung soll Seehofer die augenblickliche Flüchtlingssituation in Deutschland eine "Katastrophe mit Ansage" genannt und angekündigt haben, dass im kommenden Winter vermehrt Einrichtungen der Kirche als Unterkünfte für Flüchtlinge sowie Kasernen genutzt werden sollen. Notfalls sollte man Unterkünfte auch beschlagnahmen können. Jedenfalls sei die von der Bundesregierung prognostizierte Flüchtlingszahl von 500 000 deutlich zu niedrig angesetzt.

So weit, so politisch - und auch diskutabel. Doch Seehofer soll dem Vernehmen nach der Flüchtlingspolitik immer wieder auch Wirklichkeitsferne attestiert haben. Der Bund solle problembewusster werden; "raus aus der Traumfabrik, rein in die Realität". Und: Wer jetzt keine eigenen und wirkungsvollen Lösungsvorschläge vorzubringen habe, sei der erste Rücktrittskandidat, "wenn uns die Realität überrollt".

Man mag darüber spekulieren, auf welch konspirativem Wege die vermeintlich vertraulichen Informationen die Kabinettsstube verlassen haben. Oder ob es nicht doch eine inszenierte Indiskretion war, mit der politisch Notwendiges, aber politisch derzeit nicht allzu Korrektes in die Öffentlichkeit hineingetragen werden soll. Mit der Meinung und den Vorschlägen des bayerischen Ministerpräsidenten wird man sich auseinandersetzen müssen; und dazu werden sich - je mehr sich die Lage zuspitzt und zusätzliche Hilfen notwendig werden lässt - in den kommenden Wochen aus allen Politlagern weitere Einfälle und Überlegungen hinzugesellen. Es wird daran kein Mangel herrschen.

Was aber aufmerken lassen sollte: dass Statements hinter verschlossener Tür vorgetragen werden. Denn auch das ist eine Meinung, die praktisch nicht gesagt, aber dennoch gedacht wird und als geeignet erscheint, praktiziert zu werden. Auch das Kabinettszimmer in München wird ein Zeugnis dafür, dass es in der Debatte offenkundig Sagbares wie Unsagbares gibt. Tatsächlich werden in der Migrationsforschung Begründungen konstruiert, die Sprache über benachteiligte Gruppen und Minderheiten einzuschränken.

Die Debatte über unsere Worte ist keine Scheindebatte, die vom eigentlichen Thema ablenkt. Nicht nur das Sein, auch die Sprache bestimmt unser Bewusstsein; Begriffe sind Ausdruck unseres Denkens und spiegeln eine politische Realität. Sie werden auch zum Zeugnis eines Wandels. Es war das Jahr 1980, in dem erstmals das Wort "Asylant" im Duden auftauchte und alsbald negative Assoziationen hervorrief - wie bezeichnenderweise die meisten Worte mit Endungen auf -ant. Der Simulant gehört wie der Denunziant und Querulant nicht gerade zu den Sympathieträgern der Gesellschaft. Auch die scheinbar unverfängliche Zuwanderung hat in Deutschland einen Bedeutungswandel erlebt. Nach Ende des Krieges meinte man damit noch die Zuwanderung aus dem Osten, es folgte die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte und kippte mit der Zuwanderung Asylsuchender ins negative Bedeutungsfeld.

Wirkmächtiger noch sind sprachliche Bilder, mit denen wir die Lage anschaulich machen wollen. Dann ist von Flut und Strom die Rede, vom Boot, das voll ist, und - eine Spur martialischer - von Ansturm und Einfallsrouten. Dies permanent zu hinterfragen, ist Politik und somit ein Beitrag zur Debatte.

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Zu bedenken bleibt aber auch: Sprache lebt und verändert sich. Ihre Vielfalt ist der Nährboden für die Vielfalt der Gedanken und Meinungen. Mag sein, dass ein "Wörterbuch der Gutmenschen" eine gute Absicht spiegelt, mehr nicht. Von einer Selbstzensur aber ist abzuraten, weil es um Ansichten geht, nicht um Rhetorik, um Realität und nicht um Taktik. Übrigens soll selbst der sogenannte Gutmensch finstere Wurzeln haben und als faschistischer Kampfbegriff dienlich gewesen sein.

(los)
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