Malu Dreyer im Interview „Wir brauchen einen Pakt für die Integration“

Berlin · Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) spricht im Interview mit unserer Redaktion über die Debatte um Transitzonen, die Politik der Kanzlerin und mehr finanzielle Mittel.

 Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) im September 2015 (Archivbild).

Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) im September 2015 (Archivbild).

Foto: dpa, fve cul kat

Wir empfangen Malu Dreyer (SPD), rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin, in unserer Berliner Redaktion. Im Gespräch zur Flüchtlingskrise wirkt sie sehr ernst.

Frau Dreyer, denken Sie seit dem Attentat auf die neue Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker anders über Ihre Auftritte nach?

Dreyer Viele Politiker, gerade solche in Spitzenämtern, werden mir zustimmen, dass die Zahl der E-Mails mit Gewaltandrohungen und Beschimpfungen in jüngster Zeit massiv zugenommen hat. Aber über öffentliche Auftritte denke ich weder deswegen noch wegen des schrecklichen und verabscheuungswürdigen Attentats auf Frau Reker anders nach.

Welche Stimmung schlägt Ihnen zum Thema Flüchtlinge im Wahlkampf entgegen?

Dreyer Die meisten Menschen, denen ich begegne, wollen mit anpacken, wollen helfen und sind offen für Flüchtlinge. Ich bin auch nicht im Wahlkampfmodus. Das Managen dieser Aufgabe braucht viel Zuwendung. Mich beschäftigt aber, dass sich mehr Menschen auch bei größeren Bürgerversammlungen in einer unverhohlen rechtsradikalen Art äußern, die ich vor einigen Monaten noch nicht für möglich gehalten hätte.

Ist das ein Hinweis, dass die Stimmung kippen könnte?

Dreyer Ich halte nichts davon, darüber zu sprechen, dass vielleicht bald die Stimmung kippt. Die Frage ist doch, wie wir schnell zu einer Entlastung kommen, damit Rechtspopulisten der Wind aus den Segeln genommen wird. Und da sehe ich die Integration von Flüchtlingen als einen wesentlichen Schlüssel.

Wie lange können denn die Länder dem Zuzug von 5000 bis 10.000 Flüchtlingen pro Tag standhalten?

Dreyer Die Länder haben keinen Einfluss auf den Zustrom. Klar ist, dass wir alle extrem gefordert sind, bis ans Limit — die Länder und unsere Kommunen. Für mich ist auch klar, dass die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, weniger werden muss. Hier brauchen wir Lösungen auf europäischer und internationaler Ebene.

Also keine Transitzonen an den deutschen Landesgrenzen einrichten...

Dreyer Das schon gar nicht. Solche Quasi-Haftanstalten sind nicht umsetzbar und würden nichts bringen. Also warum weiter darüber reden?

Weil sich Union und Kanzlerin schon festgelegt haben. Muss Ihre Partei innerhalb der Koalition nicht wenigstens über Kompromisse reden?

Dreyer Bevor wir immer neue Dinge diskutieren, muss die Bundesregierung ihrer Pflicht nachkommen und die jetzt beschlossenen Maßnahmen umsetzen und anwenden. Da wäre uns allen am meisten geholfen. Vorrangiges Ziel muss es sein, die Asylverfahren zu beschleunigen. Schnelle Entscheidungen führen zu Entlastungen in den Erstaufnahmeeinrichtungen, weil wir so schnell wissen, wer gleich wieder gehen muss oder bleiben darf. In Rheinland-Pfalz haben wir 22 Entscheider und noch einen Stau von rund 20.000 Asylverfahren. Pro Woche schafft ein Entscheider etwa 20 Verfahren. Da ist der Engpass. Und hier muss die Bundesregierung handeln.

Glauben Sie, dass die jetzt beschlossenen Maßnahmen das erreichen können? Und mittelbar auch den Zuzug abbremsen könnten?

Dreyer Verfahren beschleunigen und den Zustrom abbremsen sind zwei verschiedene Dinge. Die Verfahren macht in Deutschland der Nationalstaat und da hätte der Bund schon früher handeln müssen. Den Zustrom abbremsen, das geht nur auf europäischer und internationaler Ebene mit der Staatengemeinschaft. In der Griechenland-Krise haben sich die europäischen Staats- und Regierungschefs nahezu wöchentlich getroffen. Die jetzige Herausforderung mit den Flüchtlingen ist aber noch viel größer und man trifft sich viel seltener. Hier ist mehr Engagement und Anstrengungen gefragt!

Teilen Sie denn die Auffassung der Kanzlerin, das sei alles zu schaffen?

Dreyer Es ist ja nicht nur eine Auffassung sondern vielmehr eine Haltung. Und ich verteidige diese Haltung als richtig.

Sie können Merkels Politik also nachvollziehen, die bisher keine einschränkenden Zeichen gesendet hat und jetzt in der Türkei für eine Bremse des Zustroms kämpft?

Dreyer Als die Menschen in Ungarn festsaßen, habe ich die humanitäre Entscheidung von Angela Merkel begrüßt, die Flüchtlinge nach Deutschland zu holen. Allerdings hätte sie diese Entscheidung und das weitere Verfahren vorher mit allen davon Betroffenen absprechen müssen — in den Nachbarländern und den Bundesländern. Das ist nicht erfolgt.

Und jetzt ist die Verhandlungsposition Deutschlands in Europa geschwächt.

Dreyer Ja, das sehe ich auch so. Trotzdem muss sich die Bundesregierung um eine schnelle und nachhaltige Lösung mit den EU-Staaten kümmern. Das wird Anstrengung und auch Geld kosten, beides ist aber im Zweifel gut investiert.

Ist in Deutschland die schwarze Null, also der Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung in Gefahr?

Dreyer Es steht mir als Ministerpräsidentin nicht zu, über den Bundeshaushalt zu spekulieren. Ich nehme nur wahr, dass der Finanzminister sagt, es sei genug Geld da. Dann will ich das auch glauben.

Trotzdem wird die Bewältigung der Flüchtlingskrise noch viel mehr Geld kosten, oder?

Dreyer In der Tat: Hier haben wir eine gewaltige Aufgabe zu stemmen. Wir brauchen einen finanziell gut ausgestatteten Pakt für die Integration von Flüchtlingen zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Denn es geht hier auch um die Gestaltung unseres Gemeinwesens und um ein friedliches und soziales Miteinander aller Bürger — von Neuen und Alten.

Wie soll der Pakt konkret aussehen?

Dreyer Wir brauchen einen Pakt, der Sprachkurse für wirklich alle Flüchtlinge garantiert und die Integration von Kindern und Jugendlichen in den Schulen sichert. Der Anfang ist bereits gemacht, indem die Bundesländer zum Beispiel Hunderte neue Lehrer einstellen. Außerdem erhöhen wir das Angebot der Sprachkurse. Aber wenn wir die Integration wirklich gut machen wollen, brauchen wir viel mehr Pragmatismus zwischen Bund und Ländern. Dann muss zum Beispiel das Kooperationsverbot im Bildungsbereich zwischen Bund und Ländern gelockert werden.

Ihre Herausforderin Julia Klöckner (CDU) hat gar ein Integrationspflichtgesetz gefordert.

Dreyer Auch hier gilt: Wir müssen die in der vergangenen Woche von der Bundesregierung und den Ländern beschlossenen Maßnahmen umsetzen und anwenden. Wichtiger als neue Gesetze ist doch, dass wir handeln. Symbolpolitik löst keine Probleme. In den Integrationskursen wird viel über unsere Gesellschaft und unser Miteinander vermittelt und die Kinder und Jugendlichen lernen viel über unser Land in den Kitas und Schulen. Das müssen wir stärken!

Als Reaktion auf den gestiegenen Zuzug gibt es eine neue Leitkulturdebatte. Brauchen wir eine Definition unverrückbarer Werte im Land?

Dreyer Ich habe diese Debatte noch nie verstanden. Meine Leitkultur ist das Grundgesetz. Das ist eindeutig und keine Religion steht in unserem Land darüber. Ansonsten ist für mich der Dialog zwischen Flüchtlingen, Migranten und deutschen Staatsbürgern unerlässlich.

Jan Drebes, Rena Lehmann, Birgit Marschall, Gregor Mayntz und Eva Quadbeck führten das Interview.

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(jd)
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