Kolumne: Total Digital Übersicht statt Echtzeitrausch

Der gereizten Kommentarkultur im Netz wäre sehr geholfen, wenn jeder beim Weiterverbreiten einer Information kurz in sich ginge und fragte: Was ist die Quelle? Was bringt es, wenn ich eine Spekulation poste?

Als im März 2011 der Zwischenfall im Kernkraftwerk in Fukushima stattfand, dauerte es Tage, bis das völlige Ausmaß der Katastrophe erkennbar war. Live-Ticker waren nicht neu, wohl aber die Tendenz, dass es vielen Lesern nicht mehr um Informationsbeschaffung, sondern um das Befriedigen einer Sucht ging, bei der Nähe durch einen Mausklick simuliert wurde.

Fünf Jahre später, sind wir noch nicht weiter. Die Anschläge von Paris und die Folgen zeigen es. Immer wieder bin ich auf Kommentare gestoßen, in denen Medien beschimpft wurden, weil sie noch keine Informationen zur Verfügung gestellt haben. Hörfunk-Nachrichtenredakteur Udo Stiehl veröffentlichte in seinem Blog einen vielbeachteten Text. Der Tenor: Ungeduld bringt nichts, das Recherchieren von Informationen braucht im Gegensatz zum Weiterverbreiten von Gerüchten Zeit. "Auf sämtlichen Kanälen können Spekulationen stattfinden, ohne dass es Fakten bedarf. Aber ist das Journalismus? Reicht Ihnen das aus? Ich hoffe nicht."

Drohen diese Echtzeit-Dynamiken die Standards des Journalismus zu untergraben? Nicht nur Leser, sondern auch Journalisten erliegen dem Echtzeitrausch. Wie ein Reporter vom "stern" in dieser Woche bewies. In einem Video folgte er minutenlang Polizisten durch Saint-Denis. Medienkritiker Stefan Niggemeier bezeichnete das Video zurecht als unverantwortlichen Terror-Porno. Ging es um Information? Nein, es wurde ein obszöner Nervenkitzel bedient. Mein Wunsch mag naiv sein: Der gereizten Kommentarkultur im Netz wäre sehr geholfen, wenn jeder beim Weiterverbreiten einer Information kurz in sich ginge und fragte: Was ist die Quelle? Ist das wirklich bestätigt? Was bringt es, wenn ich eine Spekulation poste? Diese Fragen müssen sich heute nicht mehr nur Journalisten stellen, sondern die gesamte Netzgemeinde.

Aber der Job der Journalisten verändert sich. "Wir Journalisten werden sicherlich unter Zeitdruck gestellt", erklärte mir Martin Oversohl. Er hat in der vergangenen Woche für die Deutsche Presse-Agentur aus Paris berichtet. "Das ist auch sicherlich gut, denn dann müssen wir schneller die richtigen Quellen finden. Aber ohne diese Quellen steigen wir nicht in die Berichterstattung ein."

Verzicht als Luxusgut. Meine Hoffnung liegt in einer Gegenbewegung: Immer mehr Leser orientieren sich am transparenten Umgang mit Informationen. Wenn offen zwischen dem unterschieden wird, was wir wissen und was wir nicht wissen. Übersicht statt Echtzeitrausch - dadurch wird so mancher näher dran sein, als er glaubt.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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