Kolumne: Total Digital Schicksalsjahre einer Kanzlerin

Sollte Angela Merkel im Herbst die Wahl gewinnen, muss sie Deutschland bei der Digitalisierung voranbringen. Denn bei dem Thema ist die Republik eher Dritte Welt denn 4.0.

Total Digital - Schicksalsjahre einer Kanzlerin
Foto: Mathias Vietmeier

Ludwigshafen machte vergangene Woche gleich zweimal Schlagzeilen. Einmal, weil dort am Freitag einer ihrer prominentesten Söhne, der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl, verstorben ist. Zum anderen, weil die amtierende Bundeskanzlerin, Angela Merkel, nur wenige Tage zuvor in der pfälzischen Industrie-Metropole den jährlichen Digitalgipfel besucht hatte.

Ort und zeitliche Überschneidung dieser beiden Ereignisse könnten symbolischer nicht sein. Hatte Helmut Kohl nach dem Mauerfall den Ostdeutschen blühende Landschaften versprochen, wird sich Angela Merkel eines Tages daran messen lassen müssen, ob es ihr gelungen ist, die deutsche Provinz, ob Ost oder West, vom Industriezeitalter ins digitale Neuland zu führen. "Die Welt schläft nicht und wartet nicht auf Deutschland", mahnte Merkel. Aus heutiger Sicht mag es weit hergeholt erscheinen, doch die Frage, ob Deutschland den Anschluss an das hypervernetzte Informationszeitalter schafft, wird für unsere Kinder und Deutschland insgesamt entscheidender sein als die aktuellen Wahlkampfschlager Rentenpolitik, Flüchtlingskrise oder Terrorbekämpfung. Glauben Sie nicht den Werbe-Märchen von Telekom und anderen Netzanbietern. Was den Ausbau des schnellen Internets betrifft, ist Deutschland mehr Dritte Welt statt 4.0. Mit einer Glasfaser-Abdeckung von gerade mal 1,7 Prozent belegt die Bundesrepublik im direkten OECD-Vergleich seit Jahren einen der letzten Ränge, weit abgeschlagen hinter Ländern wie Japan (74,1 Prozent), Slowakei (27,9 Prozent) oder Chile (6,2 Prozent).

Das anbrechende Gigabit-Zeitalter wird wohl ohne Deutschland stattfinden. Wirtschaftlich spüren wir davon noch nichts. Die Zinsen sind niedrig, die Auftragsbücher voll, wir sind besoffen vom eigenen Erfolg. Doch die Geschichte lehrt uns, gerade Zeiten wie diese sind tückisch für große und saturierte Nationen. Ob Römisches Reich oder Britisches Empire, der Niedergang begann stets in dem Moment, als man vor Kraft nur so strotzte und sich selbst für unverwundbar hielt.

Helmut Kohl war der Kanzler der Einheit. Doch was Deutschland im 21. Jahrhundert spaltet, ist keine Mauer, sondern ein digitaler Graben. Sollte Angela Merkel im Herbst wiedergewählt werden, wird sie es in der Hand haben. Wird sie, wie seinerzeit ihr politischer Ziehvater, den historischen Moment ihrer Regentschaft erkennen und entsprechend handeln? Wird sie die Digitalisierung vorantreiben und ihren markigen Worten vom Digitalgipfel in Ludwigshafen auch Taten folgen lassen? Schicksalsjahre einer Kanzlerin, vielmehr, einer ganzen Nation.

Richard Gutjahr ist Moderator für das Bayerische Fernsehen und Blogger. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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