Kolumne: Total Digital Mein Gehirn ist ganz okay - trotz Smartphone

Die Fähigkeit, in ein Thema einzutauchen, geht mit digitalen Datenträgern nicht verloren. Man muss sie bloß trainieren.

Neulich habe ich mir eine Audioreportage im Internet angehört. Sie handelte davon, wie das Internet unsere Fähigkeit beeinflusst, längere Texte an einem Stück zu lesen. Eigentlich wollte ich sofort wieder aussteigen, als die Stichworte "Hirnforschung", "Internet" und "Konzentration" fielen, denn das Ganze hörte sich doch zu sehr nach Prof. Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer an. Der deutsche Hirnforscher wollte vor einigen Jahren angeblich herausgefunden haben, dass das Internet unser Hirn vermanscht. Mit dieser wissenschaftlich nicht belegbaren Aussage durfte er anschließend durch Talkshows tingeln und seinen Bestseller "Digitale Demenz" anpreisen.

Doch dann fiel mir ein, dass ich ja einem amerikanischen Audiobeitrag lauschte und es eher unwahrscheinlich ist, dass es darin um die alarmistischen Thesen des deutschen Professors geht. Tatsächlich scheint mir das, was die amerikanische Hirnforscherin Maryanne Wolf dem Reporter in diesem Hörstück erzählte, viel einleuchtender. Und ihre Thesen passten zu dem, was der Autor Yuval Noah Harari in seinem Bestseller "Sapiens" (Eine kurze Geschichte der Menschheit) über die kognitive Revolution und ihre Folgen schreibt: Nach einer mehrere Millionen Jahre dauernden Phase des Hirnwachstums, die stets mit der Enge des Geburtskanals ihr natürliches Ende fand, sind wir heute zum ersten Mal an einem Punkt angelangt, an dem das menschliche Gehirn nicht weiter wachsen muss, um das Kurzzeitgedächtnis zu steigern. Das Internet, vor allem in Kombination mit Smartphones, ist eine endlos große externe Festplatte unseres Gehirns. Was wir nicht im Kopf haben, können wir uns innerhalb von Sekunden herbeigoogeln. Immer und überall - vorausgesetzt, es gibt ein Mobilfunknetz oder W-Lan. Deshalb reagieren wir auch so nervös, wenn wir unser Handy nicht in der Tasche haben, es fehlt uns sozusagen ein Teil unseres Gehirns.

Leider funktioniert unsere Fähigkeit, lange und tief in ein Thema einzutauchen, viel besser ohne externe Festplatte und ungestört von Ablenkungen. Mit Hirnvermanschung hat das aber nichts zu tun, sondern mit Gewohnheiten, die man verlieren und sich auch wieder aneignen kann. Zu meinen Lieblingsseiten im Internet gehören jene mit extralangen Reportagen wie Buzzfeed, Narratively oder Atavist. Das "Sapiens"-Buch habe ich neulich während eines Transatlantikfluges fast am Stück gelesen, alle 500 Seiten. Und den spannenden Audiobeitrag habe ich auch zu Ende angehört, 52 Minuten lang. Ich glaube, mein Hirn ist noch ganz in Ordnung.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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