Kolumne: Gott Und Die Welt Warum pünktliche Menschen oft keine Zeit haben

Pünktlichkeit wird zu den deutschen Tugenden gezählt. Dabei ist sie nicht immer hilfreich. Wer das Fristgerechte liebt, kommt mit Unsicherheiten im Leben oft nicht gut zurecht.

Manche schätzen sie, andere hassen sie. Und dann gibt es noch die, die sie sehr wohl zu würdigen wissen, sie aber nie beherzigen. Und wiederum andere, die sie hassen, sich ihr aber fast sklavisch unterwerfen. Dieses komische Ding ist die Pünktlichkeit, die eigentlich ja eine gute Sache ist, weil sie Verlässlichkeit garantiert und Erfolg verspricht. Auch darum ist Pünktlichkeit erst mit der Industrialisierung so bedeutsam geworden. Weil Arbeitsprozesse effektiver werden, wenn sie zeitlich aufeinander abgestimmt sind. Die Zeit ist wichtig und ihre Einhaltung eine der Spielregeln unserer Gesellschaft. Pünktlichkeit adelt die Zeit, sie macht sie nutzbar und somit zu einer wertvollen Ressource. Zeit wird plötzlich zu Geld. Dass die Pünktlichkeit dennoch einen faden Beigeschmack hat, liegt an ihrer Verknüpfung mit einer bestimmten Mentalität - die sogenannte preußische Tugend. Machen wir uns nichts vor: Spätestens in dieser nationalen Gewandung haftet der Pünktlichkeit etwas gräulich Spießiges an. Solche Überlegungen schmecken zwar stark nach Klischee - sie haben dennoch ihre Berechtigung. Denn der Umgang mit Zeit markiert kulturtypische Eigenschaften. So gibt es "monochrone" Kulturen - zumeist in westlichen Gesellschaften. Ihr Zeitverständnis ist linear; Vieles ist durchgetaktet, manches geplant. Im Gegensatz zu "polychronen" Kulturen, bei denen Ereignisse auch nebeneinander ablaufen. Das erschwert Pünktlichkeit und macht sie manchmal unmöglich. Das klingt nach schwarz und weiß, gut und weniger gut. Doch verkehren sich diese Bewertungen spätestens, wenn es Krisen zu bewältigen gibt. Der Pünktliche, der das Fristgerechte liebt und das Unwägbare somit zu vermeiden sucht, kommt damit schlechter zurecht als der, der sich mit einer gewissen Toleranz und zeitlichen Flexibilität durchs Leben schlägt. Wer die Zeit nicht ausschließlich aufs Funktionieren reduziert, kann mit Störung leichter umgehen. Pünktlichkeit hat noch eine andere Schattenseite. Denn wer der Zeit den Takt vorgibt und sie in ein Korsett sperrt, macht sich vielleicht wertvoll; er schließt aber Vieles damit aus. Wer seine Zeit für dieses bereithält, wird für sie jenes nicht mehr verfügbar haben. Pünktlichkeit kann so zu einer Form der Zeitvernichtung werden. "Ich habe keine Zeit" ist der typische Satz desjenigen, der Pünktlichkeit zum Grundgesetz seines Lebens gekürt hat. Was bleibt? Vielleicht eine Mischform, ein Umgang mit Augenmaß und jenem gelassenen Menschenverstand, den meine Oma in dem herzerfrischend schiefen Satz festzustellen pflegte: Pünktlichkeit ist eine Zier, doch es geht auch ohne ihr.

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(RP)
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