Kolumne: Gott Und Die Welt Nacktheit als Ausdruck grenzenloser Freiheit

Düsseldorf · Nackt zu sein und der Freikörperkultur zu frönen, kann Sehnsüchte ausdrücken oder ein politisches Statement sein. Doch wer nackt ist, ist auch besonders leicht verwundbar. Und wer will sich schon eingestehen, verletzlich zu sein?

Kolumne: Gott Und Die Welt: Nacktheit als Ausdruck grenzenloser Freiheit
Foto: Schröder

Wir alle hegen einen Traum von Freiheit. Der ist oft diffus und meist getrieben von dem Wunsch, keine Pflichten haben und keinerlei Verantwortung tragen zu müssen. Ein solches Leben dürfte wahrscheinlich niemand realistisch wollen; doch ändert selbst diese Einsicht an unserer Sehnsucht wenig. Solche Illusionen versuchen wir dann manchmal im Urlaub für zwei oder drei Wochen ein wenig Wirklichkeit werden zu lassen. Ausspannen nennen wir das, loslassen - oder noch etwas vehementer: abschalten.

Das Nichtstun wird zum scheinbaren Gebot grenzenloser Freiheit, und seine radikalste Körpersprache ist die Nacktheit. Ein Mensch komplett ohne Kleidung legt zugleich gesellschaftliche Konventionen ab und ist schon dadurch ganz bei sich. Zumindest ist es auffällig, dass auch mit Nacktheit bisweilen auf Zwänge reagiert und gegen diese insgeheim protestiert wird. Ausgerechnet im 19. Jahrhundert wurde die Nacktheit zur zivilisatorischen Errungenschaft und fand unter dem Namen der Freikörperkultur reichlich Anhänger. Der Drang nach solcher Freiheit erwachte damit zu einer Zeit, in der die Industrialisierung die Menschen unter neue und bis dahin unbekannte Zeit-, Lebens- und Arbeitszwänge stellte. Ein anderes Beispiel aus dem 20. Jahrhundert: In kaum einem anderen europäischen Land war FKK so beliebt wie in der DDR - in einem Land, das seinen Bürgern neben vielen anderen Freiheiten auch das Reisen und die freie Meinungsäußerung entzog.

Die Nacktheit ist nicht nur Emblem individueller Freiheit, sondern auch ein Zeichen größtmöglicher Schutzlosigkeit. Der Nackte setzt sich der Welt aus - mit aller Unschuld. Ein wahrhaft paradiesischer Zustand, wie bei Adam und Eva. Doch schon dort findet die Freiheit ihr Ende. Der Scham und dem Schrecken über die Nacktheit folgten erste Kostümierungsversuche mit dem Feigenblatt, die wir zur wahren und mit viel Aufwand betriebenen Kulturleistung gesteigert haben. Die Aufmerksamkeit, mit der wir uns der Mode widmen, zeigt die Mühen, mit denen wir unsere Verletzbarkeit verbergen und ins Gegenteil verkehren: Aus Verhüllung ist Darstellung geworden. "Kleider machen Leute" heißt die passende Gottfried-Keller-Novelle. Entlarvend ist die Wortwahl: So können Kleider tatsächlich "Leute" machen, aber noch keine Menschen. Die Verhüllung präsentiert ein gesellschaftliches Produkt, kein Wesen; sie zeigt immer nur, wer wir sein wollen, nicht, wer wir sind. Dazu würde es auch des Mutes bedürfen, sich einzugestehen, verletzlich zu sein.

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