Kolumne: Gott Und Die Welt Je langsamer wir gehen, desto schöner wird die Welt

Geschwindigkeit ist ein Zeichen der Moderne. Sie ist der Motor für viele Entwicklungen. Dabei geht viel verloren - etwa das Gespür für die Unverwechselbarkeit eines Details.

Angeblich haben deutsche Autofahrer im vergangenen Jahr 9,4 Millionen Stunden im Monat verloren, weil sie sich schlicht und einfach verfahren haben - also irgendwo in Pusemuckel landeten, obwohl sie doch nach Hintertupfingen wollten. Das ist eine von vielen Studien, die sich vor allem damit beschäftigen, wo und wie wir unsere schöne Zeit am blödesten vertun: sinnlos verschwenden, heißt es dann.

Wie wertvoll für uns alle die genutzte Zeit ist, beziehungsweise sein soll, zeigen schon all die Studien darüber, wie viele Stunden der Mensch in seinem Leben schläft, arbeitet, isst, im Stau steht. Die Zeit wird zum Götzen, dem man huldigt, ohne so recht zu wissen, warum. Während jeder größere Zeitverlust einer Niederlage gleichkommt.

In diesem Raster bewegen wir uns, und wir tun es immer hurtiger. Denn die Geschwindigkeit ist der Garant dafür, unsere Zeit optimal zu nutzen, natürlich auch in der Freizeit. Der Urlaubsflug ist dafür ein schönes Beispiel. Mit ihm versuchen wir - ausgerechnet in unserer sogenannten freien Zeit - in Windeseile große Entfernungen zu überwinden, um dann nach nur drei oder vier Stunden unter Palmen zu flanieren. Alles, was dazwischen liegt, blenden wir aus. Von der Strecke, die wir hinter uns gelegt haben, existieren nur noch zwei Punkte: der Abflugs- und der Ankunftsort. Die Welt scheint zu schrumpfen, sie wird aber nicht kleiner, wie es manchmal heißt. Denn wir sind es, die sie kleiner machen, und das gelingt nur, indem wir vieles um uns herum ignorieren, nicht mehr wahrnehmen. Dieses Reisen macht unsere Welt vor allem ärmer.

Die Geschwindigkeit ist ein Zeichen der Moderne. Sie ist der Motor für vieles und die Ursache für Entwicklungen. Darum ist es natürlich albern, sie pauschal zu verteufeln oder zu glauben, sich ihr vollständig entziehen zu können. Zu groß ist einfach ihr Nutzen, den jeder von uns Tag für Tag mit großer Selbstverständlichkeit in Anspruch nimmt. Dennoch gab es auch immer kleine Gegenbewegungen, Geschwindigkeitsverweigerer gewissermaßen. Der Flaneur in der Stadt, der Wanderer in der Natur und der Pilger auf Wallfahrt gehören dazu. Vordergründig ist das keineswegs nützlich, und gewinnbringend erst einmal auch nicht. Aber es ist eine Erfahrung von Zeit und Raum.

Mit der Bedächtigkeit entsteht ein neues Bild von der Welt. Im Vorbeirauschen sieht nicht nur alles gleich aus, sondern manches oft auch hässlich - der Hinterhof, die bekritzelte Mauer, der Aschenplatz mit Grasbewuchs an den Seitenlinien. Je langsamer man sich aber bewegt, desto besser erkennt man die Details. Diese Einzelheiten sind es, die zum Besonderen werden, zum Unverwechselbaren. Mit unserer Langsamkeit wird die Welt wieder größer, reicher, schöner. Von Zeit zu Zeit sollten wir uns auch diesen Luxus wieder gönnen.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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