Kolumne: Gott Und Die Welt Die im Dunkeln sieht man kaum

Woran erkennen wir, ob ein Mensch arm ist? Daran, dass er in Mülltonnen nach Pfandflaschen sucht? Dass er beim Bäcker nach Brot vom Vortag fragt? Ja, das sind Hinweise darauf, dass hier Menschen nicht genug Geld zum Leben haben. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit über Armut in Deutschland. Der andere ist: Armut ist oft unsichtbar, versteckt, verschämt. Die im Dunkeln sieht man eben kaum.

Stellen Sie sich einen normalen Tag in einer Fußgängerzone vor. Fast jede sechste Person, die sie sehen, ist entweder arm oder droht zu verarmen. Natürlich, das ist nur ein statistischer Wert, aber Tatsache ist: 15,5 Prozent der Menschen in unserem reichen Land gelten als arm. Und ihre Zahl wächst. Im Großraum Köln/Düsseldorf ist das Risiko zu verarmen sogar besonders hoch.

Vergessen wir nicht: Hinter jeder Zahl steht ein Mensch - eine Alleinerziehende, ein wegrationalisierter Facharbeiter, ein Kind von Einwanderern. Armut kann jeden treffen.

Das trübt die Freude über eine gute Konjunktur mit immer weniger Arbeitslosen. Die Hälfte der Haushalte in Deutschland besitzt nur rund ein Prozent des Vermögens. Ein Indiz dafür, wie zerklüftet unsere Gesellschaft ist. Wer mit dem Stigma Hartz IV belegt ist, bleibt oft arm - und wird auch noch abschätzig behandelt. Ich höre oft Sätze wie "Selbst schuld, wer bei dieser guten Konjunktur keinen Job findet". Er oder sie findet vielleicht einen, doch zu welchen Bedingungen? Mit einem Lohn, der für eine Familie nicht reicht? Bereits 1891 formulierte Papst Leo XIII: Es brauche "genügenden Lohn, um sich mit Frau und Kind anständig zu erhalten".

Natürlich, die Armut in Deutschland hat ein anderes Gesicht als etwa in Indien. Doch das Bittere für viele Arme bei uns ist: Ihre Bedürftigkeit wird oft deshalb übersehen, weil sie eben nicht immer nur eine materielle Frage ist, sondern mit Ausgrenzung und einem Mangel an Bildungschancen und Gesundheit einhergeht.

Für uns Christen liegt im Erkennen dieser Zustände ein Auftrag: "Wer in Gott eintaucht, taucht bei den Armen wieder auf" (Bischof Jaques Gaillot). Jeder arme Mensch hat unsere Zuwendung verdient. Denn es gilt Jesu Mahnung: "Was ihr dem Geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan!"

Das ist keine Barmherzigkeitsfloskel, sondern für Christen Ansporn zur Einmischung. Mischen wir uns ein!

Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki schreibt hier an jedem dritten Samstag im Monat. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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