Kolumne: Gesellschaftskunde Lob der Nüchternheit

Nüchterne Menschen gelten vielen als humorlos und langweilig. Doch gerade in aufgewühlten Zeiten ist es wertvoll, seine Gedanken von Gefühligkeiten zu befreien.

Nun ist also die große Ernüchterung eingetreten. Die Kostüme baumeln wieder unter Plastikfolie, die roten Nasen sind abgenommen, Süßigkeiten wie Alkohol wird vorerst entsagt, und die Luftschlangen kräuseln sich müde im Müll. Das ist alles ziemlich traurig, und so klingt Nüchternheit für viele vor allem nach Entsagung und Humorlosigkeit, nach Maßhalten und Vernünftigsein, nach Schluss mit dem wunderbar nutzlosen Spaß an dä Freud.

Dabei ist Nüchternheit, vor allem die gedankliche, eine Stärke. Denn wer nüchtern abwägt, stützt sich auf Fakten statt auf Empfindungen, versucht, sein Urteil ohne logische Sprünge zu begründen und dadurch nachvollziehbar zu machen. Die Nüchternen wollen nicht manipulieren, nicht zwingen, nicht überreden, sie setzen auf die Macht des Faktischen, auf die Kraft klarer Gedanken und logischer Argumente. Und gerade in aufgewühlten Zeiten tut das gut.

Die Gegenwart tendiert allerdings eher zur Gefühligkeit. Menschen müssen nur Unbehagen, diffuse Ängste, negative Empfindungen ins Feld führen, schon kommt das Argumenten gleich. Und wer dieser Logik nicht folgen will, handelt sich den Verdacht ein, die Ängste der anderen nicht ernst genug zu nehmen. Dabei kann man mit Gefühlen alles begründen und jede Diskussion beenden. Man empfindet halt so.

Es hat wahrscheinlich mit den neuen Kommunikationswegen zu tun, dass Gefühle so an Bedeutung gewonnen haben. Denn Empfindungen wecken Empfindungen und damit Aufmerksamkeit. Und das ist ein hohes Gut im Informationszeitalter, in dem viel mehr Menschen ihre Eingaben in den öffentlichen Raum machen, Informationen weitergeben, Meinungen äußern und um Beachtung kämpfen.

Natürlich hat die ungeheure Vervielfachung von Kommunikation auch Vorteile, weil der Schwarm Intelligenz besitzt. Und weil Missstände weniger Chancen haben, unerkannt zu bleiben oder vertuscht zu werden, wenn sich viele Menschen dezentral am Informationsaustausch beteiligen. Aber die Nüchternen haben es eben auch schwerer, Gehör zu finden, weil das nüchterne Urteil nicht unbedingt auch das griffigste ist. Und weil es anstrengend ist, einer nüchternen Abwägung zu folgen.

Es wird also immer wichtiger werden, gerade emotionale Debatten auf ihren argumentativen Kern zu befragen, um sich nicht vereinnahmen zu lassen. Gefühle werden heute leicht geteilt und vervielfachen sich blitzschnell. Wahr macht sie das noch nicht.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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