Kolumne: Gesellschaftskunde Lasst Milde walten!

Düsseldorf · In westlichen Gesellschaften ist kritisches Denken gefragt. Menschen urteilen ständig und schnell. Dabei kann es von Vorteil sein, die Bewertungsmaschine auch mal auszustellen.

 Unsere Kolumnistin Dorothee Krings.

Unsere Kolumnistin Dorothee Krings.

Foto: Phil Ninh

Wir leben in einer Kultur des Urteilens. Das hat viele Vorteile, denn Urteilskraft ist eine Voraussetzung für ein mündiges Leben. Darum ist die Erziehung zu kritischem Denken so wichtig. Das kostet Nerven. Es kann auch komische Formen annehmen, wenn Eltern meinen, selbst die banalsten Kleinigkeiten vor ihren Sprösslingen argumentativ erörtern zu müssen, statt einfach mal eine Ansage zu machen.

Im Grunde aber ist es ein hohes Gut, seinen kritischen Geist nutzen zu dürfen, seine Meinung vertreten und anderen eine abweichende zugestehen zu können. Das ist die Grundlage unseres Miteinanders.

Allerdings ist das kritische Denken so sehr Bestandteil unserer Wahrnehmung von Welt, dass es vielen Menschen schwerfällt, davon einmal abzulassen. So sehr sind sie gewöhnt, alles zu beurteilen und ständig beurteilt zu werden, dass sie vergessen haben, was Milde ist.

Milde bedeutet keineswegs, den kritischen Geist abzuschalten. Milde Menschen sind nicht unkritisch. Sie wissen nur, dass sie sich auch täuschen können. Und dass sie eigene Fehler haben. Und dass man darum etwas, das man bei anderen als falsch erkannt hat, auch einfach mal stehen lassen kann. Weil Einsicht besser ist als Belehrung.

Der ernsthafte Milde geht aber noch weiter. Er nimmt sich nicht nur zurück, wenn es um Urteile geht. Er kann auch wahrnehmen, ohne gleich zu bewerten, er kann Dinge wirken lassen. Das bedeutet auch, Nähe zuzulassen. Denn oft dient das beständige Urteilen eigentlich dazu, sich andere vom Leib zu halten, die einem andersartig, fremd, suspekt erscheinen.

So kann ständiges Urteilen ein Problem werden. Statt immer gleich zu bewerten, was der andere tut und denkt, ist es heilsam, sich erst der Wirkung bewusst zu werden. Dann kann die Reaktion auf etwas Unerwartetes auch Neugierde sein oder Erheiterung. Urteilen macht das Herz eng und legt die Stirn in Falten. Milde ist eine Form von Freiheit.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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