Gesellschaftskunde Gegen die Gewöhnung

Mit der Zahl der Terroranschläge in Europa wächst bei manchen Menschen das Gefühl emotionaler Überforderung. Wie weit sollte man sich auf Trauer und Erschütterung einlassen?

Gesellschaftskunde: Gegen die Gewöhnung
Foto: Krings

Man ertappt sich dabei, wie man die Gewöhnung zulässt. Wie sich im eigenen Kopf die Bilder von trauernden Menschen vor Blumenmeer übereinander schieben und man sich nicht mehr ums Auseinanderhalten bemüht; wie man sich schlecht fühlt, weil man nach einem Terror-Anschlag nicht mehr jedes Detail erfahren will, keine Augenzeugenberichte mehr liest, keine Liveticker verfolgt, nur noch wissen will, wer die Täter diesmal waren, woher sie kamen, was über ihre Motive und Hintergründe bekannt ist. Nüchterner Umgang mit barbarischen Taten - ist das Selbstschutz, Verdrängung, Abstumpfung?

Jedenfalls bleibt ein ungutes Gefühl. Als gäbe es da einen inneren Richter, der sagt, dass man so nicht empfinden, es sich nicht so leicht machen sollte, weil man dann womöglich das Werk der Attentäter vollendet. Die wollen vielleicht nicht nur Angst und Wut schüren und eine offene Gesellschaft im Mark erschüttern. Vielleicht zielen sie darauf, dass sich Menschen verhärten, sich das Mitempfinden abgewöhnen, kaum noch Empathie aufbringen. Und das nicht einmal merken.

Tatsächlich ist die Versuchung groß, sich trotzig einzuigeln, einen inneren Riegel vor das Mitempfinden zu schieben und auf private Behaglichkeit zu setzen. Und heißt es nicht immer, man solle das kleine Glück nicht zu gering achten? Schon erklären Psychologen in Interviews, dass diese Gewöhnung normal sei, dass der Mensch so ticke, dass er nicht immer im Ausnahmezustand leben könne, sondern versuche, die unübersichtliche, grausame Wirklichkeit zu verarbeiten und darum in Schubladen packt. Und die Schubladen auch mal zuschiebt.

Bei den Anschlägen in Paris hatten die Menschen die sozialen Netzwerke noch mit Solidaritätsbekundungen überschüttet. Tagelang schwamm alles in den Farben der französischen Trikolore. Solche öffentlichen Bekundungen offenbaren den Gemütszustand des digitalen Schwarms, und es ist weder sinnvoll, emotionale Reaktionen dieser Art als übertrieben zu diffamieren, noch kann sich der Einzelne zu Empfindungen zwingen, nur weil die Mehrheit sie für geboten hält.

Aber die meisten Menschen spüren wohl genau, wenn sie verhärten. Wenn sie nur darum nicht mehr hinsehen, weil sie sich Wahrheiten vom Leib halten wollen. Es gibt für Empathie keine Norm. Jeder benötigt ein eigenes Maß an Distanz für den Umgang mit der Wirklichkeit. Aber Mitempfinden ist keine emotionale Verschwendung, die sich nur Gutmenschen leisten. Wir sollten dünnhäutig bleiben. Das ist unsere Stärke.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(dok)
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