Kolumne: Gesellschaftskunde Du sollst Zeit haben!

Düsseldorf · Erbittert ist der Kampf um die Deutung der US-Wahl. Jeder soll eine Meinung haben, möglichst schnell. Dabei gerät die Wirklichkeit aus dem Blick.

Du sollst Zeit haben - Kolumne von Dorothee Krings
Foto: Krings

Gerade ist eine Dokumentation über den Schriftsteller Peter Handke in die Kinos gekommen. Darin formuliert der Autor ein "elftes Gebot", das in seiner Befehlsform seltsam anmutet: "Du sollst Zeit haben!" Im Film ist Handke dann zu erleben, wie er bedächtig Pilze aufschneidet, in seinem Garten Muscheln ausstreut, seine Hemden bestickt.

Nun kann man das spinnert finden, Zeithaben als das Privileg eines Schriftstellers abtun und einen Haken hinter dessen Gebot machen: Das mit der Muße klappt eben nicht im normalen Leben.

Doch wer dem Schriftsteller ohne innere Abwehr zusieht - und zum Glück ermöglicht das Kino manchmal solch intime Momente -, kann erkennen, dass Zeithaben keine Frage von Freizeit ist, sondern eine Entscheidung. Der Entschluss, auch dem scheinbar Unnützen Raum zu geben. Und das, was man tut, achtsam zu verrichten. Und das, was diese Achtsamkeit nicht verdient, möglichst bleiben zu lassen.

Eine solche Haltung ist auch ein wirksames Mittel gegen Vorschnelligkeit, jenes gehetzte, achtlose Denken und Handeln, zu dem die täglichen Verzettelungen verleiten. Diese Voreiligkeit ist ein Grund dafür, dass zu unüberlegt, dafür aber umso härter und unversöhnlicher geurteilt wird. Das ist gerade in den erregten Tagen nach der US-Wahl zu beobachten: Im schnellen Austausch von Gefühlen, Meinungen, Anschauungen werden die Gräben immer tiefer. Auch hierzulande.

Plötzlich sind sich alle einig, dass es auch in Deutschland ein unüberwindliches Gegeneinander abgehängter Globalisierungsverlierer und selbstverliebter Machtelite gebe. Dass "der weiße Mann" sich gerächt habe und "die intellektuelle Schickeria" vom hohen Ross heruntersteigen müsse. Dabei sind das alles Zuschreibungen, die nur Feindschaft säen und den Einzelnen aus der Pflicht entlassen, sich um seine Mitmenschen zu scheren. Danach zu fragen, wen warum welche Ängste umtreiben. Und was nur Trotzigkeit ist, geistiges Armeverschränken nach einer Wahl, deren Ausgang alarmierend ist. Und bleibt.

"Du sollst Zeit haben!" ist der Befehl, nicht einzustimmen. Nicht in Beschuldigungsreflexe zu verfallen, sondern die Distanz der Langsamen ein- und die Wirklichkeit offen wahrzunehmen - ehe die ganz überkrustet ist von all den giftigen Gewissheiten, die gerade grassieren und die Leute hinter Fronten zwingen wollen. Zeit ist ein gutes Mittel gegen Polarisierung.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(dok)
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