Berliner Republik Soziale Gerechtigkeit ist wie eine Kurvendiskussion

So wie jeder Unternehmer in seinem Unternehmen auf eine faire Verteilung der Entlohnung achten muss, so muss auch eine Regierung dieses Ziel im Auge behalten.

Berliner Republik: Soziale Gerechtigkeit ist wie eine Kurvendiskussion
Foto: Schwennicke

Es gibt Reizthemen, die Reflexe auslösen, gegen die ein Pawlowscher Hund mit dem Gemüt eines Schaukelpferdes daherkommt. Je direkter das Thema mit Geld zu tun hat, desto reflexhafter die Reaktionen. Das erweist sich aktuell an der vom SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz angestoßenen Diskussion über die Deckelung der Managergehälter.

Man sollte sich vom Geschrei nicht kirre machen lassen. So, wie es zu Recht eine Untergrenze geben sollte, was ein arbeitender Mensch für eine noch so unqualifizierte Arbeit bekommt, so ist auch das Bestreben, auf Obergrenzen einzuwirken, ein legitimes Ziel. Denn ebenso wie es eine Unterkante dessen gibt, was Arbeit allein schon wegen der zur Verfügung gestellten Lebenszeit pro Stunde wert ist, gibt es eine Obergrenze dessen, was sich noch durch Leistung und Verantwortung rechtfertigt. Es ist eine gesamtgesellschaftliche und damit politische Aufgabe, darauf zu achten, dass die Spreizung der Einkommen in einem Rahmen bleibt, der den Zusammenhalt des Gemeinwesens gewährleistet. Deshalb ist es nicht nur das Recht des Staates, sondern seine Aufgabe, sowohl auf die Unter- als auch auf die Oberkante ein Auge zu haben.

Gerechtigkeit ist nicht genauestens in Cent und Euro zu messen

So wie jeder Unternehmer in seinem Unternehmen auf eine faire Verteilung der Entlohnung achten muss, wenn sein Unternehmen intakt sein soll, so muss auch eine Regierung, welcher Couleur auch immer, dieses Ziel im Auge behalten. Wer Gerechtigkeit oder das Streben nach ihr verhöhnt, gefährdet den inneren Zusammenhalt. Es stimmt, Gerechtigkeit ist nicht bis in den letzten Cent und Euro zu messen. Aber das ist der "Pursuit of Happiness" auch nicht, der in der amerikanischen Verfassung festgeschrieben ist und über den sich keiner lustig macht, obwohl das Anrecht auf Streben nach Glück und dessen Erreichen noch schwerer zu messen ist.

Erinnern Sie sich noch an die Kurvendiskussion im Mathematikunterricht? Da ist es so, dass man etwa die Wende-, Sattel- und Schnittpunkte einer Kurve nur errechnen kann, in dem man sich mit immer kleineren "Kästchen" ihr annähert. Die Kurven verlaufen ins Unendliche. In Gänze erfassen lassen sie sich nie. Aber niemand stellt deshalb die Methode infrage. Denn es gibt keine bessere. Und sich der Kurve so nah wie möglich anzunähern, ist definitiv besser, als alles Rechnen aufzugeben, nur weil man das Ideal nie erreicht. So ist das auch mit der Gerechtigkeit. Die Debatte um sie, das Ringen um sie ist die Kurvendiskussion einer Gesellschaft.

Der Autor ist Chefredakteur des "Cicero" und schreibt hier im Rahmen einer Kooperation. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

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