Kolumne: Berliner Republik Die Jugend steht aufs "Merkeln"

Das aus dem Namen der Kanzlerin gebildete Verb ist Favorit für das Jugendwort des Jahres. Doch möglicherweise liegt ein Missverständnis vor.

Kolumne: Berliner Republik: Die Jugend steht aufs "Merkeln"
Foto: Phil Ninh

Einmal pro Jahr möchte der Langenscheidt-Verlag von Deutschlands Jugend ihr Lieblingswort erfahren. Die Wahl in diesem Jahr dauert noch bis Oktober. Aktueller Favorit mit derzeit 34 Prozent der Stimmen ist das Wort "merkeln". Das vom Namen der Kanzlerin abgeleitete Verb steht nach Angaben von Langenscheidt als Synonym für "Nichtstun, keine Entscheidung treffen, keine Äußerung von sich geben".

Zweiter Favorit für das Jugendwort des Jahres ist die Wortschöpfung "rumoxidieren", was für Chillen/Ausruhen steht. Das bedeutet eigentlich auch, dass man nichts tut und gerade keine Entscheidungen trifft und sich im Zweifel auf belanglose Äußerungen beschränkt. Inwieweit die Kanzlerin mit ihrem "Gemerkel" also den Nerv der Jugend 2015 trifft, das müssen dann mal findige Soziologen herausbekommen, wenn "merkeln" tatsächlich Jugendwort des Jahres wird. Jedenfalls sind kreative Umschreibungen fürs Nichtstun grundsätzlich bei der Jugend beliebt. 2009 wurde "hartzen"- in Bezug auf arbeitslose Hartz-IV-Empfänger - zum Jugendwort des Jahres erklärt.

Wer das sogenannte Tu-Wort "merkeln" erfunden hat, ist unklar. Jedenfalls geistert es schon seit einigen Jahren durch Leitartikel und Satire-Beiträge, um den Regierungsstil der Kanzlerin zu beschreiben. Jetzt hat es die Jugend für sich entdeckt und findet es ganz offensichtlich "bambus", was laut Langenscheidt wiederum für krass/cool steht - und auch zu den 30 zur Wahl stehenden Jugendwörtern 2015 zählt.

Oberflächlich betrachtet, wird das Wort "merkeln" korrekt eingesetzt, um politisches Schweigen, Abwarten und Zögern zu beschreiben. Wenn SPD-Chef Sigmar Gabriel "Hü" ruft und CSU-Chef Horst Seehofer "Hott" entgegnet, dann sagt die Kanzlerin erst einmal nix - jedenfalls nicht öffentlich. Sie "merkelt" also. Doch Karl-May-Fans, die beispielsweise mal "Unter Geiern" gelesen haben, wissen, dass erstens nicht alles so ist, wie es scheint, und dass durchaus viel passieren kann in der Prärie, wenn es gerade sehr leise ist. Wie wirkungsvoll Merkels geräuschloses Agieren sein kann, da frage man einmal Friedrich Merz, Roland Koch oder Norbert Röttgen. Auch Finanzminister Wolfgang Schäuble kann ein Lied davon singen.

Selbst die SPD hat vor der Kunst des "Merkelns" inzwischen so viel Respekt, dass sie sich gerade völlig unmerkelhaft laut und öffentlich darüber zerstreitet, ob man Merkel politisch überhaupt schlagen kann. Derweil "merkelt" die Kanzlerin auf ihre vierte Amtszeit zu und rückt damit in die Dimension von Helmut Kohl vor, der Deutschland 16 Jahre dauerregierte und als dessen Geheimnis das Aussitzen von Problemen galt. Das allerdings machte er so offensiv, dass er dafür viel Kritik einsteckte und stets miserable Beliebtheitswerte hatte. "Gemerkelt" wird hingegen grundsätzlich defensiv - frei nach dem Prinzip: Je kleiner die Angriffsfläche ist, desto weniger Pfeile können einen treffen.

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(RP)
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