Kolumne: Berliner Republik Abschied von der Höflichkeit

In unsicheren Zeiten sollten zumindest die Umgangsformen der Politiker verlässlich sein. Seehofer schadet sich mit seinem Auftreten selbst.

CSU-Chef Horst Seehofer ist stolz darauf, dass er das Ohr am Volk hat. Seitdem er in Bayern wieder ohne Koalitionspartner regieren kann, betont er gerne, er habe eine Koalition mit dem Volk. Das schließt für ihn ein, politische Spielregeln außer Acht zu lassen, wenn er als Volkes Stimme auftritt. Was das konkret heißt, musste die Kanzlerin am Freitagabend beim CSU-Parteitag spüren. Er demütigte sie auf offener Bühne, um seinen Ansichten in der Flüchtlingspolitik Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Mit diesem Affront verschaffte Seehofer nicht nur inhaltlich einer sich immer weiter verbreitenden Meinung Geltung. Er machte sich auch die im Land aggressiver werdende Stimmung zu eigen. Der Ton in der öffentlichen Debatte um die Flüchtlingspolitik ist rau geworden, da wird es Seehofer auch.

Seehofer wäre nicht Seehofer, wenn er dabei nicht auch gleich den Bogen überspannt. Seine Unhöflichkeit ging so weit, dass die Grünen verwirrt fragten, ob die Union die bürgerlichen Anstandsregeln nicht mehr kenne.

Die Kanzlerin erwischte der Auftritt kalt. Denn in den Wochen vor dem CSU-Parteitag war die Stimmung zwischen den Schwesterparteien wieder besser geworden. Immerhin stand im Vorfeld des CSU-Parteitags der Besuch der CDU-Chefin auf tönernen Füßen. So war Merkel schon beim Besuch des Deutschlandtags der Jungen Union von den jungen Männern der CSU schlecht behandelt worden. Sie taten ihren Unmut kund, als die Kanzlerin kam, und tranken demonstrativ Bier, während sie sprach.

In der CSU gibt es aber auch eine Reihe von Parteigängern, die ein solches Benehmen, sowohl das Seehofers als auch das der Jungen Union, zum Austragen von Meinungsverschiedenheiten für falsch halten. Dementsprechend schlecht schnitt der Parteichef bei seiner Wiederwahl ab. So sind nun beide beschädigt: Merkel und Seehofer.

Politischen Streit auszutragen ist eine Kunst, die viel Intuition erfordert. In guten Zeiten kann man Streit auch schon mal zum Amüsement des Publikums mit deftiger Inszenierung einhergehen lassen. So richteten CSU und FDP nur geringen Schaden an, als sie sich seinerzeit in der Auseinandersetzung um die Gesundheitsreform gegenseitig als "Gurkentruppe" und "Wildsau" bezeichneten. In Zeiten aber, in denen es im Volk tatsächlich eine tiefe Verunsicherung über die Flüchtlingskrise und den Terror in Europa gibt, müssen die verantwortlichen Politiker Staatsräson an den Tag legen. Dazu gehören auch professionelle Umgangsformen.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort