Gastbeitrag von Karl-Rudolf Korte Meinungsumfragen — die irren, die Demoskopen

Düsseldorf · Die Ergebnisse von Meinungsumfragen sind längst nicht nur exakte Momentaufnahmen. Sie dienen dem Fein-Tuning der Wahlkampfausrichtung. Dabei liegen Meinungsforscher daneben wie selten zuvor. Ein Gastbeitrag von Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte.

 Karl-Rudolf Korte

Karl-Rudolf Korte

Foto: Karlheinz Schindler

Wahlkämpfe lohnen sich wieder! Aufholjagden mobilisieren Partei-Mitglieder und Wähler. Abstiegs-Szenarien fördern Angst und Missmut. Wählerische Wähler kann man nur noch punktuell binden. Große Distanzen zur CDU minimierte Malu Dreyer im Mainzer Landtagswahlkampf 2016 und verwandelte den Zweikampf im Foto-Finish zum Sieg. Auch Anke Rehlinger (SPD) nutze zuletzt im Saarland den "Schulz-Schub", um die Umfrage-Werte für die SPD deutlich zu verbessern. Und Hannelore Kraft (SPD) sitzt im "Schulz-Zug" und freut sich über ansteigende Zustimmungswerte.

Die Grundmelodie, den Sound der Zahlen, setzen - bis zur Schließung der Wahllokale - die Demoskopen. Und die irren, wie selten zuvor. Ob die SPD in Rheinland-Pfalz tatsächlich einen zehnprozentigen Abstand zur Union aufholte, gehört ins Reich der Siegergeschichten. Die SPD in Saarbrücken kam nie wirklich in die Nähe der CDU-Ministerpräsidentin, am Ende trennten beide mehr als elf Prozentpunkte. Ob Union und SPD in NRW einen so deutlichen Abstand haben, wie im Moment gemessen, wissen wir nicht wirklich. Wie oft wollen wir noch auf die Fehler-Demoskopie hereinfallen? Zahlen machen Politik. Sie kreieren Umfrage-Helden, zu denen in der Geschichte der Fehler-Demoskopie sehr oft die Grünen zählten.

Umfrageinstitute stoßen an ihre Grenzen

Die seriösen Umfrageinstitute bemühen sich redlich, um exakte Momentaufnahmen zu erarbeiten. Doch methodologisch stoßen sie systematisch an Grenzen unserer Aufregungsdemokratie. Da beispielsweise Telefoninterviews über das Festnetz jahrzehntelang verlässlich den Standard setzten, ist im Handy-Zeitalter eine proportionale regionale Befragung nur noch schwer möglich. Immer größer wird der Anteil von ergänzenden Schätzungen und eingebrachten Erfahrungswerten der Demoskopen, um die Rohdaten nachträglich zu bearbeiten. Statt Repräsentativität transportiert die Stichprobe auch unter den Bedingungen einer zunehmenden Antwort-Verweigerung der Angerufenen mittlerweile ein Zerrbild der Gesellschaft.

Der direkte Einfluss von Demoskopie auf das konkrete Wahlverhalten ist in der Forschung umstritten. Gleichwohl hat der indirekte Einfluss in den letzten Jahren drastisch zugenommen, vollkommen unbeirrt von den fehlerhaften Ergebnissen. Demoskopische Erkenntnisse dienen verlässlich dem Fein-Tuning der Wahlkampfausrichtung. Sie sind aus dem Alltag der Parteizentralen für strategische Überlegungen nicht mehr wegzudenken. Umfragen sind keineswegs wahlentscheidend.

Aber über Umfragen wird in der für die Wahlentscheidung wichtigen interpersonalen Kommunikation gesprochen. Dort wird abgewogen, was die Balken nach oben oder unten bedeutet. Kann ich mit meiner Stimme dazu beitragen, dass eine Partei über die Fünf-Prozent-Hürde gelangt? Wie kann ich eine Koalitionspräferenz unterstützen, die Aussicht auf Erfolg hat? Gerade in Zeiten von negativen Koalitionsaussagen der Parteien in NRW und einer möglichen Koalitionslotterie sind solche Überlegungen wichtig. Wähler lieben nicht nur Favoriten, sondern wollen auch gerne bei den Siegern sein. Wähler sind Fans des Erfolgs.

Umfragen können insofern demobilisieren, wenn es aussichtslos erscheint und auch mobilisieren, wenn es knapp werden könnte. Als Echo-Demoskopie gehören sie mittlerweile zu den zentralen Instrumenten einer Wahlkampfführung. Wichtig bleibt, dass seriöse Umfragen publiziert werden, die auch entsprechende Angabe über statistische Fehler und weitere methodische Hinweise enthalten müssen. Ebenso bedeutend ist, dass Umfragen bis einen Tag vor der Wahl als Quellen zugänglich gemacht werden - unabhängig davon, dass mehr als ein Drittel der Wähler zu den Früh-Wählern (Briefwahl) gehören. Denn die Wahlentscheidung sollte auf der Höhe von potenziellen Informationen getroffen werden, unabhängig davon, wie valide die Daten sind.

Faktisch hat sich eine Sucht nach Demoskopie öffentlich ausgebreitet - bei Politikern, in Redaktionen und beim Wähler. Wir lieben offenbar das Messbare aus Mangel an Maßstäben. Umfragen bilden nicht nur Realität ab, sondern sie steuern auch die politische Realität. Wahl- oder Parteitagstermine werden mit Rücksicht auf Sympathiewogen gezielt ausgewählt. Unentschiedene, taktische Wähler orientieren sich intensiv an den Umfragedaten, um eigene Wahlabsichten auszuloten. Die Kommentierung negativer Umfrageergebnisse, wie derzeit für die CDU oder die Grünen in NRW, nehmen breiteren Raum in der Berichterstattung ein, als das Bemühen um inhaltliche Auswege aus jeweiligen Sympathie-Tiefs.

So ersetzt die Diskussion über Umfragedaten vielfach die inhaltliche Auseinandersetzung. Dieser täglich zu beobachtende Umgang mit der Droge Demoskopie ist ein Indiz für extreme Unsicherheiten. Wer hingegen wertorientiert über ein gesellschaftliches Zukunftsbild verfügt, macht sich unabhängig von Umfragen. Wer nicht nur Politik nach Tagesmehrheit ausrichtet, sondern den gesellschaftlichen Grundkonsens verändern will, leitet seine Maßstäbe nicht primär aus Umfragen ab. Der eigene Kompass schützt vor Meinungsumfragen.

(RP)
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