Jugendliche Asylbewerber Allein geflohen, alleingelassen

Berlin · Vor der Flüchtlingswelle war die nötige aufwendige Betreuung von Minderjährigen ohne Verwandte optimal aufgestellt, doch inzwischen fühlen sich die zuständigen Stellen zunehmend überfordert. Die Städte setzen nun auf Islamunterricht.

 Einem Unicef-Report zufolge gab es in Deutschland von Januar bis Ende Mai dieses Jahres 9000 Asylanträge von unbegleiteten jugendlichen Flüchtlingen.

Einem Unicef-Report zufolge gab es in Deutschland von Januar bis Ende Mai dieses Jahres 9000 Asylanträge von unbegleiteten jugendlichen Flüchtlingen.

Foto: dpa

Aydan Özoguz braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, welche Debatte sich an dem Amoklauf des jungen Asylbewerbers in Würzburg entzünden wird. "Aus dieser Wahnsinnstat eines 17-Jährigen, der immerhin eine Pflegefamilie hatte, kann man schwerlich allgemeine Schlüsse auf Terrorismus oder die Integrationspolitik in Deutschland ziehen", gibt die Integrations-Staatsministerin (SPD) gestern zu Protokoll. Da hat der Grünen-Politiker Omid Nouripour bereits fassungslos getwittert: "Arbeite seit Jahren mit unbegleiteten afghanischen Jugendlichen. Wie erkläre ich Opfern von Würzburg, dass die allermeisten nur Frieden wollen? Bitter."

Ein Drittel unter 18

Ein Drittel aller Flüchtlinge in Deutschland ist minderjährig. "Die meisten sind zwischen 15 und 17 Jahre und männlich", sagt Birgit Naujoks vom Flüchtlingsrat NRW. Die Jugendämter sind für die inzwischen fast 70.000 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge zuständig. Eine immense Steigerung, wie das Beispiel NRW zeigt: Hier leben laut Familienministerium derzeit 12.853 minderjährige Flüchtlinge, die unbegleitet nach Deutschland gekommen sind. Vor einem Jahr waren es 3500, im Jahr davor 2201.

"Vor der Massenmigration des vergangenen Jahres waren die Aufnahmebedingungen für minderjährige Flüchtlinge bundesweit sehr gut organisiert", unterstreicht der Bundesverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Die Versorgungslage sei ausreichend, die Betreuung durch die Jugendhilfe engmaschig und erfolgversprechend gewesen — "insbesondere dann, wenn es um Traumatherapien ging". Seit dem vergangenen Jahr seien die Jugendlichen aber auch in die Hände bisher völlig unerfahrener Institutionen gefallen. Viele Jugendämter seien überfordert. "Diese Minderjährigen benötigen dringend ein stabiles Umfeld, auch um dem Risiko einer Radikalisierung oder anderer auffälliger Verhaltensweisen vorzubeugen", lautet die Mahnung des Verbands.

In der Obhut des Jugendamtes

Naujoks unterstreicht diesen Befund. Die Minderjährigen würden nach ihrer Registrierung in den Landeseinrichtungen in die Obhut der jeweiligen Jugendämter gegeben. Nur in den wenigsten Fällen erhielten sie eine psychologische Betreuung. "Dabei bräuchten sie dringend Hilfe. Viele sind traumatisiert, haben Verwandte, Geschwister, Freunde oder Eltern im Krieg oder auf der Flucht verloren", betont Naujoks. Betroffene Flüchtlinge müssten derzeit bis zu zwei Jahre auf einen Termin beim psychologischen Dienst warten. "Es fehlt massiv an Personal. Nicht nur Therapeuten, sondern auch Dolmetscher sind nicht ansatzweise in der Zahl vorhanden, wie man sie benötigt", kritisiert Naujoks.

Die Jugendlichen kommen vor allem aus Syrien und Afghanistan, leiden oft nicht nur an schweren Traumata, sondern sind immer wieder auch mit einem belastenden Auftrag unterwegs: Sie sollen dafür sorgen, dass ihre Familienangehörigen nachkommen können, oder eine Beschäftigung finden, um Geld in die Heimat schicken zu können. Das ist auf Anhieb in den seltensten Fällen zu schaffen, und so wächst die Verzweiflung in ihnen. Bei jungen afghanischen Männern kommt zudem oft noch ein Kulturschock hinzu, der sie abdriften und Halt im Glauben suchen lässt. Der Verfassungsschutz beobachtete bereits Ende vergangenen Jahres verstärkte Anwerbeversuche radikaler islamischer Gruppen unter Flüchtlingen.

2,7 Milliarden Euro im Jahr

Deshalb setzen Vertreter der Kommunen nun auf den Islamunterricht, bei dem es um die Darstellung einer friedlichen und nicht gewalttätigen Religion geht. "Es ist angemessen, Islamunterricht auch an staatlichen oder staatlich kontrollierten Schulen anzubieten", sagt Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes. Die zunehmende Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge gerade aus muslimischen Ländern stelle eine große Herausforderung dar. Derzeit befänden sich bereits 68.100 Flüchtlinge im Alter von zumeist 15 bis 17 Jahren in der Obhut der kommunalen Jugendhilfe. Jährliche Kosten: rund 2,7 Milliarden Euro.

Die jugendlichen Flüchtlinge seien bereits relativ selbstständig und bräuchten nicht die Rundum-Betreuung, die schwer erziehbare und kriminelle Jugendliche bekämen. "Die Herausforderungen liegen eher im Erlernen der deutschen Sprache und in den kulturellen Differenzen", so Landsberg.

(jd/mar/may-)
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