Sondierungen in Berlin Jamaika im Schlussspurt

Berlin · Für die Sondierer einer möglichen Jamaika-Koalition dürfte es eine lange Nacht werden. In vielen Fragen haben Union, FDP und Grüne noch keine Einigung gefunden. Die CSU will beim Familiennachzug für Flüchtlinge nicht nachgeben.

 Sondierungen in Berlin (v.l.): Cem Özdemir (Grüne), Horst Seehofer (CSU), Christian Lindner (FDP) und Angela Merkel (CDU).

Sondierungen in Berlin (v.l.): Cem Özdemir (Grüne), Horst Seehofer (CSU), Christian Lindner (FDP) und Angela Merkel (CDU).

Foto: dpa, nie fgj

Angela Merkel bricht an diesem Tag mit ihrer Gewohnheit zu schweigen. Vier Wochen lang ist sie bis auf eine kleine Zwischenbilanz wortlos an den Journalisten vorbeigegangen, die während der vergangenen drei Wochen vor dem Verhandlungsgebäude in Berlin ausharrten. Diesmal geht sie forschen Schrittes auf die Kameras zu und gibt sich Mühe, allen Beteiligten die Bedeutung der gleich beginnenden Gespräche von Union, FDP und Grünen einzuschärfen. "Heute ist der Tag, an dem wir uns jeweils in die Situationen des anderen hineinversetzen müssen." Und: "Ich hoffe, dass der Wille da ist, dass etwas gelingt. Die Verantwortung dafür haben wir", sagt eine ernste Merkel.

Es wird wohl eine lange Nacht. Harte Stunden der Entscheidung. Es steht viel auf dem Spiel: Handlungsfähigkeit, Glaubwürdigkeit, Vertrauen. Die Bürger verlieren langsam die Geduld mit den Politikern. Sie wollen sechs Wochen nach der Bundestagswahl endlich Ergebnisse sehen — und das Gejammer nicht mehr hören, dass sie als Wähler diese vertrackte Lage verursacht hätten. Wer hat sich schon wirklich ein Jamaika-Bündnis gewünscht?

Kretschmann platzt der Kragen

Die Parteien passen einfach nicht zusammen, sagen deren Vertreter selbst. CDU und Grüne geht noch ganz gut, Grüne und FDP schon sehr viel schwieriger. CSU und Grüne bergen so viel Sprengstoff, dass es zwischen CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt und dem Grünen-Oberrealo Winfried Kretschmann richtig knallt. Kretschmann explodiert am Vorabend geradezu vor Wut, als er auf Attacken von Dobrindt und des CSU-Generalsekretärs Andreas Scheuer zu sprechen kommt.

Bis zuletzt sät Dobrindt Zweifel, ob die Christsozialen sich wirklich um eine Koalition bemühen. Anders der parteiintern angeschlagene CSU-Chef Horst Seehofer. Er verhandelt ernsthaft und hält sich wie Merkel in der Öffentlichkeit mit Provokationen zurück. Übrigens auch während der Gespräche hinter den verschlossenen Türen.

Die erste Jamaika-Koalition im Bund oder ein grandioses Scheitern — es steht viel auf dem Spiel. Die Verhandlungsführer brüten Stunde um Stunde über einem 61 Seiten dicken Papier, das am Donnerstag auf dem Tisch liegt und fast schon den Charakter eines Koalitionsvertrags hat.

Wundersame Geldvermehrung

Bis dahin war auch die wundersame Vermehrung der Milliarden zu beobachten, die der Jamaika-Koalition jetzt plötzlich als finanzieller Spielraum für die kommenden vier Jahre zur Verfügung stehen sollen. Aus 30 Milliarden Euro, die sich Anfang November aus der Steuerschätzung und einem vorhandenen Finanzpuffer für die Jahre bis 2021 ergeben hatten, zauberte der amtierende Finanzminister Peter Altmaier (CDU) plötzlich 45 Milliarden.

Und das ging so: Da der Bund weniger für Flüchtlinge und Zinsen als bisher geplant ausgeben müsse, so Altmaier, könne er in Wahrheit 38,6 Milliarden Euro zusätzlich ausgeben. Hinzu kämen weitere 6,6 Milliarden Euro, die in der bisherigen Planung eigentlich als Teil einer Vorsorge für spätere Rechtsverpflichtungen vorgesehen waren, die er aber irgendwie loseisen konnte. Macht insgesamt also gut 45 Milliarden, die für Steuerentlastungen, Investitionen und andere Mehrausgaben bis 2021 zur Verfügung stehen.

Allerdings gehen die Wünsche der vier Parteien immer noch weit über diese Summe hinaus. Ursprünglich war von über 100 Milliarden Euro Kosten die Rede, die sich als allen Forderungen ergaben. Jetzt sind es im bereits leicht abgespeckten 61-Seiten-Papier immer noch 70, 80 Milliarden Euro. Zu viele teure Projekte also, von denen in der Nacht etliche gestrichen oder als nicht-prioritär eingestuft werden müssen.

Triumph für die FDP

"Der Solidaritätszuschlag wird schrittweise abgebaut", steht im Papier ohne eckige Klammern und ist bereits Konsens — ein Triumph für die FDP. Doch allein schon der erste Schritt — den Soli für alle mit Jahreseinkommen bis 50.000 Euro zu streichen — würde den Bund zehn Milliarden Euro jährlich kosten. Könnte die FDP ihre Forderung durchsetzen, den Soli noch in dieser Legislaturperiode für alle abzuschaffen, müsste der Bund auf 20 Milliarden Euro im Jahr verzichten, was die Koalition stark einschränken würde.

Die großen Streitthemen Klimaschutz und Migration will die große Runde der 56 Sondierer am Abend als Erstes anpacken. Beim Klima sind sich die Grünen einerseits und Union und FDP andererseits schon darin weiter uneinig, wie viel Treibhausgas eigentlich eingespart werden muss, um das Klimaschutzziel 2020 von minus 40 Prozent CO2 gegenüber 1990 nicht zu reißen. Immerhin haben die Grünen einen Etappensieg errungen, weil das Klimaziel 2020 jetzt von Schwarz-Gelb nicht mehr infrage gestellt wird.

Nach zwei Stunden berichten Teilnehmer, die Verhandlungen seien festgefahren. Die CSU stellt sich quer beim Thema Familiennachzug, will keinen Millimeter von ihrer Programmatik abgehen, in der es heißt, der Familiennachzug für eingeschränkt Schutzbedürftige solle bis auf Weiteres verboten bleiben. Für die Grünen ist das keine Geschäftsgrundlage, sie wollen den bis März 2018 ausgesetzten Familiennachzug wieder ermöglichen.

Eine weiße Rose

Die frühere Grünen-Chefin Claudia Roth, Chefunterhändlerin ihrer Partei beim Thema Migration, tritt um 20 Uhr frustriert vor die Journalisten. Sie hat eine weiße Rose in der Hand. "Die brauche ich jetzt für mich", sagt sie. Die CSU wolle ihr Programm durchsetzen. "Das ist eigentlich das Ende der Verhandlungen", sagt Roth. Sie verstehe nicht, warum jetzt nicht die CDU-Chefin endlich mal einschreite. Die Union operiere mit viel zu hohen Zahlen, was den Nachzug angehe, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) schätze ihn auf 50.000 bis 70.000 Personen im Jahr. "War nicht blöd, dass ich meine Zahnbürste mitgenommen habe", sagt Roth.

Auch in den zwei Stunden darauf hakt es weiter vor allem an der Flüchtlingsfrage. Die Union nennt die sehr viel höhere Zahl von 750.000 Personen, die aus den Kriegsgebieten in Syrien und Irak nach Deutschland insgesamt nachziehen könnten. Die Zahl, an der sich die grünen Verhandler orientieren, ist so viel niedriger, weil viele der jungen Flüchtlinge nicht verheiratet sind, wie eine Umfrage gezeigt hatte.

Die CSU-Landesgruppe soll ihrem Parteichef Seehofer sogar geraten haben, Jamaika lieber platzen zu lassen als beim Familiennachzug einzuknicken. Innerhalb der Partei tobe ein Machtkampf, ist am Rande der Verhandlungen zu hören. Gegen den angeschlagenen CSU-Chef Seehofer trete CSU-Landesgruppenchef Dobrindt auf. Dieser plädiere für Härte, während Seehofer eher bereit sei, beim Familiennachzug nachzugeben.

Aus CDU-Kreisen heißt es dagegen, bei allen Teilnehmern sei weiterhin der Wille zur Einigung spürbar. Grüne und FDP erklärten, sie seien weiter gesprächsbereit. Solange die Hürde beim Flüchtlingsthema jedoch nicht genommen werde, müsse man bei allen übrigen Themen auch nicht weiter verhandeln.

"Wir haben Verantwortung für die Menschen"

Gerade FDP und Grüne hatten den Abend optimistisch begonnen. Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt klang sehr staatstragend und sogar ein wenig wie Merkel. Sie sagte: "Wir haben Verantwortung für die Menschen, die uns das Vertrauen gegeben haben. (...) Und wir wissen, dass die anderen Verhandlungspartner natürlich auch Menschen haben, die ihnen vertrauen."

FDP-Chef Christian Lindner sagte: "Heute ist ein Tag, an dem wir die Menschen mit Mut und Tatkraft und neuem Denken beeindrucken können." Das waren andere Töne als in den Tagen zuvor gewesen. Die Zeit der Drohungen schien zu Ende gegangen zu sein.

(kd, anh, mar)
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