Interview mit Christian Hirte "Der Ossi tickt anders"

Berlin · Der neue Ostbeauftragte der Bundesregierung spricht im Interview mit unserer Redaktion über kulturelle Unterschiede zwischen Ost und West, die Notwendigkeit, Bundesbehörden viel stärker als bisher im Osten anzusiedeln, und die Verpflichtung von Weltkonzernen für Arbeitsplätze im Inland.

 Christian Hirte (Archivbild).

Christian Hirte (Archivbild).

Foto: Christian Hirte

Herr Hirte, warum braucht es fast 30 Jahre nach dem Mauerfall noch einen Ostbeauftragten?

Hirte Wir haben keine Metropolregionen und seit der Wiedervereinigung noch keine erfolgreichen internationalen Großkonzerne in den neuen Ländern. Das ist einer der großen Strukturunterschiede zwischen Ost und West. Diese Konzerne fehlen mit Spitzenabsolventen, Spitzengehältern und als Motor für bestimmte Innovationen. Der Osten in der Fläche wird nie die Arbeitsmarkt- und Gehaltsstruktur wie etwa Baden-Württemberg oder Bayern haben. Und "der Ossi" tickt anders als der Westdeutsche, der Bayer aber übrigens auch.

Wie tickt der Ossi?

Hirte Es gibt kulturelle Unterschiede in Europa zwischen West und Ost. Und diese Linie verläuft direkt durch Deutschland. Die Ostdeutschen sind kulturell eher den Mittel- und Osteuropäern näher. Das hat mit 40 Jahren Prägung in der sowjetdominierten Zone zu tun. Wir blicken auf manche Dinge in Europa anders, sind deshalb aber nicht weniger europäisch. Wir Ostdeutschen sollten mit mehr Selbstbewusstsein die eigene Kultur und Tradition vertreten. Ohne die neuen Bundesländer wäre die Bundesrepublik gar nicht denkbar. Wir haben auch die viel spannendere Geschichte. Nicht nur, dass wir uns in einer friedlichen Revolution Freiheit und Demokratie erkämpft haben, wir sind mit Goethe und Schiller auch das Land der Dichter und Denker. Die kamen nicht aus dem später industrialisierten Ruhrpott. BMW hat in meiner Heimat, in Eisenach, gelernt, wie man Autos baut.

Wo ist der Ostdeutsche eher verortet - bei Jens Spahn oder Angela Merkel?

Hirte Viele Ostdeutsche sind skeptischer, was die Migration betrifft. Aber in ähnlich strukturschwachen Regionen im Westen ist diese Haltung auch anzutreffen. Der Unterschied hier und bei anderen Themen ist eher einer zwischen Stadt und Land. Und im Osten gibt es eben außer Berlin keine Metropolen. Auf Fremdes reagieren Menschen oft erst einmal mit Zurückhaltung. Im Osten sind Ängste vor Veränderung stärker ausgeprägt, weil es in der DDR so gut wie keine Zuwanderung gab und andere Nationalitäten abgeschottet untergebracht waren wie die Russen oder Arbeitskräfte aus Angola und Mosambik. Die Zuwanderung ab 2015 war auch völlig anders als seit 1990, wo es immer eine Migration in den Arbeitsmarkt gab.

Wie wichtig ist für Ostdeutschland die von CSU-Innenminister Horst Seehofer neu entfachte Debatte über den Islam?

Hirte Die Verunsicherung bei diesem Thema ist ja da. Man muss darüber reden. Das hat bereits der frühere Bundestagsfraktionschef Friedrich Merz mit seiner Forderung nach einer Leitkultur getan. Man muss die Sorgen der Menschen vor Veränderung ernst nehmen. Das heißt ja nicht, dass man sich alles an Skepsis zu eigen macht. Wir müssen diese Debatte deshalb differenziert führen.

Siemens will viele Arbeitsplätze in seinem Turbinen-Werk in Görlitz abbauen - nach ursprünglichen Planungen der kompletten Schließung - und will neue Stellen in den USA schaffen. Nimmt die Bundesregierung diesen Weltkonzern in die Pflicht?

Hirte Siemens ist eines der deutschen Unternehmen, die erfolgreich am Weltmarkt sind. Die Bundesregierung unterstützt Siemens und vergleichbare Unternehmen mit hohen Forschungszuschüssen und im internationalen Wettbewerb durch Außenwirtschaftsförderung für den besseren Export ihrer Produkte. Siemens bekommt die politische Unterstützung insbesondere bei ganz großen Aufträgen im Ausland. Wenn wir das so unterstützen, dürfen wir auch erwarten, dass ein solcher Konzern seiner Verantwortung im eigenen Land gerecht wird. Wir in der Politik sind bereit, einen Strukturwandel zu begleiten, etwa die Infrastruktur um Görlitz herum zu verbessern.

Was muss aus Ihrer Sicht bei der ersten Kabinettsklausur in Meseberg für Ostdeutschland herauskommen?

Hirte Wir können von den Bayern lernen, was die Stärkung der Heimat und des ländlichen Raumes betrifft. Sie haben strukturschwache Gegenden u.a. mit der Verlagerung von Behörden gefördert. Die Bayern haben 650 Beschäftigte aus Landesbehörden in solche Regionen verlagert. Das ist eine starke Symbolik, aber auch ein tatsächlicher Impuls. Meine Erwartung ist, dass wir das genauso auf Bundesebene in den Blick nehmen. Wenn wir Behörden verlagern oder neue gründen, müssen wir den Osten stärker berücksichtigen. Der Beschluss von 1992, dass Bundesbehörden vorrangig im Osten angesiedelt sein sollen, ist bei weitem nicht umgesetzt. Ich habe alle Kabinettsmitglieder angeschrieben und darauf hingewiesen, dass dieser Beschluss noch umgesetzt werden muss. Für das nächste Jahr steht die Gründung der neuen Bundesfernstraßengesellschaft an. Mit Hauptsitz und Nebenstellen werden das Tausende neue Stellen sein, um Infrastrukturprojekte planungsrechtlich besser voranzutreiben. Ich wüsste nicht, was dabei gegen den Osten spricht."

Kristina Dunz führte das Gespräch.

(kd)
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