Internationale Pressestimmen zum Jamaika-Aus "Kann Ende von Merkels politischer Karriere bedeuten"

Düsseldorf · Die internationalen Medien haben das Ringen um eine Regierungsbildung in Deutschland genau verfolgt. Das Aus der Jamaika-Sondierungen kommentierten Journalisten weltweit. Dabei hinterfragen die meisten die Rolle und Zukunft von Kanzlerin Merkel.

Pressestimmen (Symbolfoto).

Pressestimmen (Symbolfoto).

Foto: qvist /Shutterstock.com/Retusche RPO

Aus Sicht der Londoner "Times" sind die Tage von Merkel als Bundeskanzlerin gezählt. Sie sei nun "mit der schwersten politischen Krise ihrer zwölfjährigen Herrschaft konfrontiert. Ihre Tage sind gezählt. (...) Das ist eine schlechte Nachricht für Europa." Die Reformpläne von Präsident Macron in Frankreich hingen davon ab, dass ein starkes Deutschland eine dynamische Achse Paris-Berlin unterstützt. "Wenn Merkel geht, steht Macron ohne Unterstützung allein im Wind. Innenpolitische Unsicherheiten behindern Großbritannien, Spanien und Italien. Bei den Mitteleuropäern wächst der Euroskeptizismus. Zudem ist Merkel zur Gefangenen ihrer früheren Fehler geworden und nicht mehr die unangefochtene Führerin Europas."

Die polnische Zeitung "Gazeta Wyborcza" aus Warschau kommt zu der Einschätzung, Merkel drohe das Ende ihrer politischen Karriere: "Für sie ist das ein großer Imageschaden. Vor allem wenn das schlimmste Szenario wahr wird und es zu Neuwahlen kommt. Dann könnten die Deutschen die Kanzlerin zwar stärker unterstützen, man kann aber auch nicht ausschließen, dass die CDU Stimmen verliert und die Populisten der AfD dazugewinnen. Dann könnten Appelle, Merkel für ihre bisherige Politik und das Hereinlassen Hunderttausender Migranten im Jahr 2015 zur Rechenschaft zu ziehen, wahr werden. Es ist vorstellbar, dass die Partei Merkel zwingt, in den politischen Ruhestand zu gehen."

Auf die Rolle von Angela Merkel geht auch die Schweizer "Neue Zürcher Zeitung" ein: "Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Merkel die Magie der Macht abhanden gekommen ist. Stattdessen stellt sich Ratlosigkeit ein. Die naheliegende Antwort darauf ist, das Volk zu befragen." In Bezug auf eine Neuwahl könnte das Scheitern von Jamaika "eine neue Ausgangslage für die Wähler geschaffen haben, auf die sie möglicherweise anders reagieren werden", schreibt die NZZ. "Werden sie die kleinen Parteien bestrafen, die sich jetzt als Spielverderber gezeigt haben? Oder werden sie eine von ihnen stärken, um klare Machtverhältnisse zu schaffen? Werden sie ihre Enttäuschung mit noch mehr Stimmen für die AfD demonstrieren? Oder werden sie vielmehr die in die Opposition abgetauchte SPD wieder stärken? Prognosen sind in der heutigen Lage kaum möglich. Grund genug, die Wähler zu befragen."

Sollten die gescheiterten Sondierungen wirklich zu einem politischen Rückzug von Angela Merkel führen, hätte das weitreichende Folgen, befürchtet die slowakische Tageszeitung "Pravda": "Ein erzwungenes Aus für die ewige Kanzlerin hätte Auswirkungen auf ganz Europa. Nicht zufällig zitterte der Euro an den Finanzmärkten sogleich wie Espenlaub. (...) Merkel hat jahrelang dem wirtschaftlich ohnehin dominanten Deutschland in Europa auch eine politische Dominanz beschert. Sie verkörpert eine Ära der Stabilität nicht nur für Deutschland, sondern für Europa. In der Ära von Donald Trump, Wladimir Putin, Brexit und zunehmendem Extremismus ist sie die vielleicht letzte liberaldemokratische Welt-Führungspersönlichkeit. Mit ihrem Wort haben viele wichtige europäische Diskussionen begonnen und mit ihrer Stimme aufgehört. Sollte diese Ära zu Ende gehen, wenn gerade neue Krisen und grundlegende Zukunftsentscheidungen anstehen, würden wir das alle spüren."

"Anfang sehr schwieriger Zeiten"

Dass die Jamaika-Sondierungen gescheitert sind, stürzt Deutschland in eine "schwere politische Krise, und ganz Europa wird darunter leiden". Das schreibt die Pariser Zeitung "Le Monde", und bezeichnet die Ereignisse als "sehr schlechte Nachricht für die Europäische Union". "Deutschland ist nicht nur die erste Volkswirtschaft der EU, es ist auch Stabilitätsgarant der Union und wichtiger Partner Frankreichs für das gesamte europäische Projekt. Die verantwortlichen Politiker in Deutschland müssen sich auch dieser Verantwortung bewusst sein."

Auch der "Guardian" aus London sieht Europa vor schwierigen Zeiten: "Die nun unvorhersagbare politische Szenerie in Deutschland bedeutet, dass die EU sogar noch stärker mit ihren wichtigsten Problemen ringen muss. In Frankreich kann Emmanuel Macron nun nicht mehr sicher sein, dass es möglich ist, mit Merkel eine starke französisch-deutsche Lokomotive zu bauen, mit der Reformen der Eurozone vorangetrieben werden können - was einer der Knackpunkte für die FDP war." Die politische Unsicherheit werde außerdem weiter von den Brexit-Verhandlungen ablenken. "Deutschlands Politik war in Europa oft umstritten, aber Merkels Rolle als Problemlöserin - etwa mit der Türkei in Sachen Immigration oder bei der Verhängung von Sanktionen gegen Russland wegen dessen Vorgehen gegen die Ukraine - war immer wieder von entscheidender Bedeutung. Das Versagen am letzten Wochenende in Berlin könnte der Anfang sehr schwieriger Zeiten gewesen sein."

Die Frage danach, welche Regierung denn nun künftig in Deutschland an der Macht sein wird, wirft die Amsterdamer Zeitung "de Volkskrant" auf, und macht einen eigenen Vorschlag: "Für die Politik von (Kanzlerin Angela) Merkels CDU und den Grünen gibt es in Deutschland keine Mehrheit. Sie könnten durchaus eine Minderheitsregierung bilden. Das wäre - nach skandinavischem Modell - ein interessantes Experiment im Dualismus von Regierung und Parlament. Merkel könnte dann noch einmal ihre Rolle als Künstlerin des Ausgleichs spielen - bis die CDU einen Nachfolger für sie gefunden hat."

(hebu/dpa/AFP)
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