Vom Unwort zum Kampfbegriff Was ist die deutsche Leitkultur?

Düsseldorf · Vor dem Hintergrund anhaltender Zuwanderung ist ein Begriff wieder in Mode gekommen: der von der deutschen Leitkultur. Politisch hantiert damit inzwischen jede Partei. Doch was meint dieses Schlagwort?

 Leitkultur: Die wichtigsten Regeln in Deutschland sind das Grundgesetz.

Leitkultur: Die wichtigsten Regeln in Deutschland sind das Grundgesetz.

Foto: Ferl

Die Leitkultur hat sich gemausert. Zumindest als Wort. Manche behaupten sogar, sie sei salonfähig geworden. Auf jeden Fall hat sie endgültig den Giftschrank deutscher Unwörter verlassen: Aus einem Schmähbegriff mit vermeintlich rassistischen Untertönen ist politisches Alltagsvokabular geworden, mit denen die Mandatsträger hierzulande mit beachtlicher Selbstverständlichkeit hantieren - die von CDU/CSU gelassener als jene von der SPD, die wiederum weit entspannter als die Volksvertreter der Grünen. Für alle aber gilt: Niemand, der heute von deutscher Leitkultur spricht, muss sich sorgen, eine Debatte vom Zaun zu brechen. Im Gegenteil: Forsch wird das Wort auch als Kampfbegriff aktiviert: "Deutsche Leitkultur statt Multikulti" verlautete CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer.

Bleibt nur die Frage, was unter Leitkultur 17 Jahre nach der Wortschöpfung verstanden wird und warum es bis heute eine deutsche Erfindung geblieben ist. Da hilft ein kurzer Blick aufs Entstehungsjahr des Wortes: Bassam Tibi, deutscher Politologe mit syrischen Wurzeln, führte 1998 die "Leitkultur" als Sammelbegriff unseres Wertekonsens' ein, der CDU-Politiker Friedrich Merz popularisierte und der Philosoph Jürgen Habermas diskreditiert sie.

Diese drei sind mehr als nur das Ausgangspersonal einer Wortkarriere. Ihr Zusammenspiel markiert das gesellschaftliche Spannungsfeld, in dem die Leitkultur historisch-kritisch gedeutet wird. Für den Soziologen ist sie ein verbales Werkzeug, die Gegenwart zu beschreiben; der Politiker macht es für seine Zwecke dienlich, der Mahner erinnert an den Rückfall in eine Wertediktatur. Diese drei Quellen nährten bislang die Debatte. Davon scheint heute allein die Politische noch zu sprudeln.

Der von Habermas mahnende Verweis auf die Nazi-Vergangenheit Deutschlands erklärt auch, warum in keinem anderen europäischen Land vergleichbare Wertedebatten geführt werden. Der Streit über die Leitkultur ist so gesehen auch Ausdruck eines unsicheren, vielleicht fehlenden nationalen Selbstverständnisses.

Dass inzwischen die Vorstellung von einer deutschen Leitkultur emotional entschärft ist, mag auch mit einer Sehnsucht nach Normalität zusammenhängen. Es war Peter Sloterdijk, der vor vier Jahren solche Träume auch philosophisch befeuerte. "Eine deutsche Herkunft muss kein Grund mehr für Vertrauensentzug sein", sagte er. Und so konnte mit Papst Benedikt XVI. ein Deutscher zur höchsten moralischen Instanz aufsteigen. Zudem hatten die Deutschen in ihrem Sommermärchen gezeigt, wie unbeschwert sich tausendfach wieder unsere Nationalfahne schwenken ließ. Bedenkenswert ist sicherlich beides, auch wenn der deutsche Pontifex zurückgetreten und das Zustandekommen des deutschen Sommermärchens möglicherweise unlauteren Mitteln zu verdanken ist.

Was ist deutsch, und zwar: typisch deutsch?

Auf die politische Tagesordnung kam der Begriff erst wieder mit dem Problem anhaltender Zuwanderung und der Integration der Flüchtlinge. Dabei wurde die Frage nach einer Leitkultur in zwei Richtungen gestellt: nach außen - an jene gerichtet, die sich ihr anzunehmen haben; sowie nach innen, also an die vermeintlichen Träger einer solchen Kultur. Wer gegenüber anderen von Leitkultur spricht, muss selber wissen, was Leitkultur meint. Das ist vornehm formuliert, denn eigentlich steckt dahinter die Frage: Was ist deutsch, und zwar: typisch deutsch?

Da fängt es an, unbehaglich zu werden. Man kann sich in Phrasen retten und uns ein Volk der Dichter und Denker nennen, womit die Zahl der Angesprochenen kurios überschaubar würde. Man kann aber auch kurz die Augen schließen und unzensiert unser Deutschsein in Schlagworte fassen: Vielleicht sind wir dann ja eine Nation der Autofahrer, Mülltrenner und Atomenergie-Aussteiger, wir gelten als pünktlich und zuverlässig, sind neuerdings Helikopter-Eltern und schon ewig für die Gleichberechtigung.

Diese diffuse Leitkultur aber soll ein Wegweiser für ein Volk zwischen Terrorangst und Willkommenskultur sein und uns als Antwort auf die Frage dienen, wie eine liberale Gesellschaft mit Konflikten von außen umgehen kann. Reicht es, das Grundgesetz als wichtigsten Wertekanon einfach ins Arabische zu übertragen und massenhaft an die Zuwanderer zu verteilen? Mehr als gut gemeint ist dieser Vorschlag nicht. Das Grundgesetz ist für Deutsche in deutscher Sprache verfasst worden. Es setzt eine vergleichsweise homogene Gemeinschaft in einem einheitlichen Kulturraum voraus. Kein Artikel darin ist voraussetzungslos. Allein der erste, der die Unantastbarkeit menschlicher Würde postuliert, gründet in der abendländischen Aufklärung und bleibt ohne diese phrasenhaft.

Oder ist Leitkultur am Ende bloß das, was derzeit in all den praktischen Ratgebern den Zuwanderern für einen reibungslosen Deutschland-Aufenthalt ans Herz gelegt wird - von der Hygiene bis hin zum Straßenverkehr? Würde das allein unsere Leitkultur ausmachen, wäre es politisch zwar unverfänglich, doch im Grunde herzlich karg.

Dennoch ist es nicht wenig, über Leitkultur nachzudenken, ohne gleich finale Antworten liefern zu können? Natürlich gibt es unverzichtbare Leitplanken unseres nationalen Selbstverständnisses - wie die deutsche Sprache und unseree Verfassung. Aber schon Konfessionen scheiden aus dem allgemeinen Wertekanon aus; die Kruzifix-Urteile haben dies nachhaltig bestätigt.

Die Leitkultur mag salonfähig geworden sein. Das entbindet uns nicht von der Aufgabe, ihr weiter nachzuspüren.

(los)
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