Altkanzler mit 96 Jahren gestorben Schmidt dachte global

Bonn · Mit den Staatslenkern des Westens pflegte Helmut Schmidt als Bundeskanzler eine besonders enge Beziehung. Er war einer der Erfinder der jährlichen Weltwirtschaftsgipfel.

Helmut Schmidt und die Staatschefs der Welt
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Nicht nur seine Landsleute verehren Helmut Schmidt. Auch in Großbritannien stand der deutsche Kanzler zeitlebens in hohem Ansehen. Grund waren nicht so sehr politische und wirtschaftliche Erfolge, sondern sein perfektes Englisch. Ob am Verhandlungstisch oder im britischen Fernsehen, seine ausgezeichneten Sprachkenntnisse halfen ihm, auf dem internationalen Parkett eine gute Figur zu machen.

Schmidt dachte von Anfang an global. Er war Miterfinder der Weltwirtschaftsgipfel, zu denen sich die sechs, später dann sieben führenden Industrienationen jährlich trafen. Im französischen Rambouillet fing es 1975 an - die Aufhebung der Goldbindung des Dollar, die Turbulenzen nach dem ersten Ölpreisschock und der Anstieg von Arbeitslosigkeit und Inflation machten den reifen Industrieländern zu schaffen. Der deutsche Kanzler war da in seinem Element. Schnell attestierten ihm die Partner in den USA, Frankreich und Großbritannien weltmännisches Format. Er war gefragt, nicht nur wegen des gewachsenen wirtschaftlichen Gewichts der Bundesrepublik.

Neben der freundschaftlichen Beziehung zum damaligen französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing, mit dem ihn auch ein starkes wirtschaftliches Interesse verband, stand Schmidt auch dem amerikanischen Präsidenten Gerald Ford besonders nahe. Ganz anders als dessen Nachfolger Jimmy Carter, mit dem er legendäre Sträuße ausfocht.

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Noch mehr schätzte Schmidt den aus Deutschland stammenden jüdischen US-Außenminister Henry Kissinger. Dessen nüchterne außenpolitische Analyse faszinierte den Vernunftmenschen Schmidt. Auch die kalte und schnörkellose Art, in der Kissinger Realpolitik praktizierte, fand in dem Deutschen einen begeisterten Nachahmer. Schmidt war schließlich beides - Weltökonom und Realpolitiker.

Auch für den britischen Labour-Premier James Callaghan, der gemeinhin für den ökonomischen Niedergang der Insel verantwortlich gemacht wird, hatte Schmidt viel übrig. Der Hamburger mochte den britischen Stil, außerdem verband die beiden die Herkunft aus einfachen Verhältnissen.

Stationen eines Lebens
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Stationen eines Lebens

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In späteren Runden trafen sich die Staats- und Regierungschefs von einst und beschworen die alten Tage. Sie waren dabei unisono der Meinung, die Qualität der späteren Lenker der wichtigsten westlichen Nationen habe deutlich abgenommen. Denn die Generation Ford, Schmidt, Giscard und Callaghan in den 70er Jahren ging der Generation Reagan, Kohl, Mitterrand und Thatcher in den 80er Jahren fast idealtypisch voraus. Und die aus der damaligen Sicht Schmidts so unerfahrenen Staats- und Regierungschefs waren sich beileibe nicht so nahe wie die im Jahrzehnt zuvor.

Schmidt erkannte die Gefahr der Aufrüstung früh

Freilich waren die 70er Jahre weder in politischer noch in wirtschaftlicher Hinsicht besonders erfolgreich. Das Wachstumsmodell der Nachkriegszeit kam in allen Industrieländern an die Grenzen. Untergangspropheten wie der "Club of Rome" mit seinen düsteren Prognosen vom Ende des Wohlstands hatten Hochkonjunktur. Und die Entspannungspolitik Anfang der 70er Jahre machte einer neuen Phase der Ost-West-Konfrontation Platz.

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Schmidt war immerhin der Erste, der die Gefahr erkannte. Die Aufrüstung der Sowjetunion mit neuen SS-20-Raketen, die das Gleichgewicht in Europa bedrohten und geeignet waren, die Nato zu spalten, machte er öffentlich. Zugleich legte sich der streitbare Sozialdemokrat mit den Pazifisten in der eigenen Partei an.

Die von der Sowjetunion verfolgte Entkoppelung der Nato von der Führungsmacht USA verhinderte er, obwohl er mit Ford-Nachfolger Jimmy Carter überhaupt nicht klarkam. Schmidt war fast erleichtert, als mit dem Republikaner Ronald Reagan 1981 wieder ein Hardliner ins Weiße Haus einzog. "Ich mag diesen Mann", war sein Kommentar nach dem ersten Besuch beim neuen US-Präsidenten.

Doch Reagan, obwohl älter als Schmidt, gehörte schon der nächsten Führungsgeneration an. Die beiden haben kein Verhältnis zueinander entwickeln können. Seine Freundschaft zu Kissinger vertiefte der Deutsche hingegen. Die beiden wurden so etwas wie die realpolitischen Mahner, die mehr in Machtkategorien als in universalethischen Imperativen dachten. Sie sahen Nationen als Interessen-Vertreter, weniger als Missionare für Menschenrechte und Demokratie.

Deshalb hatten beide zum Aufsteiger China ein anderes Verhältnis als viele westliche Politiker, die statt der wirtschaftlichen Potenz der neuen Supermacht vor allem deren Defizite bei fundamentalen Bürgerrechten sahen. Darüber sahen die beiden Machtpolitiker großzügig hinweg. Sie liebten es, ihren scharfen außenpolitischen Verstand zu zelebrieren und kamen zu recht ähnlichen Ergebnissen: Die Beziehung der USA zur Großmacht China wird den Diskurs der ersten Hälfte des neuen Jahrhunderts beherrschen. Europa muss aufpassen, dass es nicht zur Peripherie verkommt. So nahe waren sich beide, dass Kissinger gar hoffte, als Erster zu sterben. Er wolle in einer Welt ohne Schmidt nicht leben. Jetzt ist der Deutsche doch vor ihm gestorben.

Zwiespältiges Verhältnis zu den USA

Neben dem Systemgegensatz zum Sowjetblock, von dem Deutschland ganz besonders betroffen war, nahmen die Beziehungen zu den befreundeten westlichen Mächten den größten Teil der außenpolitischen Agenda Schmidts ein. Die schlingernde europäische Gemeinschaft mit dem Dauerpatienten Italien war einer der Schwerpunkte seiner Europapolitik. Für ihn war selbst Großbritannien ein entscheidender europäischer Spieler, ganz anders, als das heute viele EU-Politiker sehen.

Das neben Frankreich wichtigste Land für Schmidt waren die USA. Er bewunderte die Großzügigkeit der Amerikaner, wie sie den Deutschen nach dem Krieg halfen, auch wie vorbehaltlos sie die Einigung als freudiges Ereignis feierten.

Andererseits hatte er an den USA vieles auszusetzen. Die sprunghafte Außenpolitik hat er nie verstanden, auch nicht die Drohgebärden gegenüber der Sowjetunion. Häufig hielt er gerade den USA vor, die Sicherheitsinteressen Moskaus nicht richtig zu deuten. Gleichzeitig war ihm klar, dass ohne die atlantische Supermacht Europa sofort in den Einflussbereich des Ostblocks geraten würde. Er war gespalten, aber im Kern ein der Westintegration tief verpflichteter Politiker. Es hatte für ihn immer oberste Priorität, Teil des Westens zu sein. Er hatte dafür in seiner Zeit die richtigen Mitstreiter.

(kes)
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