Interview mit Hans-Jürgen Papier "Mich wundert die Schafsgeduld beim Soli"

München · Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, attackiert den Wortbruch der Regierenden, was die Fortdauer des Solidaritätszuschlages betrifft. Hier werde Vertrauen in die Politik erschüttert, sagte der Münchner Staatsrechtler im Interview mit unserer Redaktion

 Hans-Jürgen Papier war einst Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

Hans-Jürgen Papier war einst Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

Foto: dpa, bvj kde

Eine neue Studie ermittelt ein — so wörtlich — dramatisch schwindendes Interesse an der Arbeit des Bundestages. Sind wir schlampige Demokraten?

Papier Ich sehe seit einigen Jahren eine gewisse Krise des Parlamentarismus. Und das vor dem Hintergrund, dass das Grundgesetz eine dezidiert parlamentarische Demokratie konstituiert. Der Vertrauensverlust ist besorgniserregend und geht auf Dauer an die Grundfesten der Demokratie.

Sollte man es deshalb mit mehr Mitbeteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen versuchen?

Papier Das ist nicht der Königsweg zu mehr Interesse an der Politik und zu mehr Vertrauen in die Politik. Ich war und bin kein Anhänger von Volksentscheiden auf Bundesebene. Die Entscheidungen, die die Parlamente in den modernen Gesellschaften treffen müssen, sind derart komplex, dass in aller Regel die sich stellenden Fragen nicht nach dem Plebiszit-Schema Ja oder Nein zu beantworten sind.

Höre ich da den versteckten Vorwurf heraus, das Volk sei politisch zu blöd?

Papier Ich würde keinesfalls auf fehlende Sachkunde oder fehlendes Verständnis zielen, vielmehr auf die Komplexizität, welche politisch-parlamentarische Kompromisse verlangt und nicht Ja- oder Nein- Voten. Ich glaube generell nicht, dass das politische Interesse des Volkes wesentlich und nachhaltig zunehmen wird, je stärker es bei bestimmten Gesetzgebungs-Projekten zu Volksentscheidungen aufgerufen wird.

Fakten zum Solidaritätszuschlag
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Wo ist vor allem bei den jungen Bürgern der politische Schwung?

Papier Ich wünschte mir mehr Feuer. Das politische Desinteresse vieler junger, gut ausgebildeter Menschen macht mir große Sorge.

Wie kann man denen, salopp formuliert Feuer unterm Hintern machen?

Papier Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Für mich ist es zum Beispiel nicht zu begreifen, warum so viele Jüngere die Frage künftiger Alterssicherung so sehr verdrängen. Die Entpolitisierung zeigt sich hier auch an einer gewissen Gleichgültigkeit im Hinblick auf Zukunftsfragen. Für mich unbegreiflich.

Noch einmal zum Thema "Vertrauen in die Politik". Ist nicht der politische Wortbruch beim " Soli", der anscheinend auf ewig erhalten bleiben soll, ein krasses Beispiel für Vertrauensbruch?

Papier So ist es. Hier wird Vertrauen in politische Führung erschüttert. Der Solidaritätszuschlag war als Ergänzungsabgabe für einen vorübergehenden Sonderbedarf des Bundes im Zuge der deutschen Einheit angelegt. Er muss von Verfassungs wegen eine Ausnahme bleiben. Den Soli in die Einkommensteuer zu integrieren, wäre eine drastische Erhöhung der Steuern, seine dauerhafte Beibehaltung verfassungsrechtlich bedenklich.

Wundern Sie sich auch manchmal über die Schafsgeduld der Deutschen, die fast alles mit sich machen lassen?

Papier Hin und wieder Ja, etwa in dem Punkt "Solidaritätsabgabe" . Da bin ich überrascht, wie das mehr oder minder lautlos hingenommen wird.

Ähnlich wie bei der so genannten "Kalten Progression" bei Lohn- und Einkommensteuer, die ja eine heimliche Steuererhöhung darstellt?

Papier Ja. Ich halte als Staatsrechtler seit längerem die Hinnahme einer kalten Progression durch den Gesetzgeber für verfassungsrechtlich problematisch.

Warum?

Papier Keine Steuer darf ohne ausdrückliche Bewilligung durch das Parlament erhoben oder erhöht werden. Das wird durch die kalte Progression de facto und geräuschlos ausgehebelt. Ich befürworte deshalb eine automatische Überprüfung der Steuertarife in bestimmten Zeitabständen, damit unmerkliche Steuererhöhungen am Parlament vorbei unterbleiben.

Derzeit wird ein Burka-Verbot diskutiert. Was sagt der Verfassungsexperte dazu?

Papier Ich rate von einem solchen Verbot ab. Wir haben das Grundrecht auf freie Religionsausübung. Einschränkungen wären nur zulässig zum Schutz gleichwertiger Verfassungsgüter, etwa der Grundrechte anderer. Das sehe ich nicht, wenn sich muslimische Frauen in der Öffentlichkeit verschleiern. Artikel 4 des Grundgesetzes schützt nicht nur Angehörige der christlichen Religion, das muss man den Menschen, die gegen die so genannte Islamisierung des Abendlandes protestieren, vermitteln. Auch Anhänger des Christentums können und sollen sich zu dessen Werteordnung öffentlich bekennen. Diese christliche Werteordnung stimmt im Wesentlichen mit der Werteordnung des Grundgesetzes überein. Dies sollte aber niemals in Feindschaft zu anderen Religionen geschehen.

Ein glühender Europäer wie Bundesfinanzminister und Kabinetts-Senior Wolfgang Schäuble begeistert sich für den Begriff "Vereinigte Staaten von Europa". Und Sie?

Papier Ich halte das jedenfalls derzeit nicht für erstrebenswert. Es ginge auf der Basis unserer Verfassung auch nicht. Da müsste sich das deutsche Volk schon eine neue Verfassung geben und sich in einen europäischen Bundesstaat eingliedern. Deutschland würde zu einem Gliedstaat, so wie es jetzt im Bund die Bundesländer sind. Abgesehen von der Stimmung bei uns bin ich mehr als skeptisch, ob sich die anderen EU-Staaten und ihre Völker auch eingliedern wollten, denn Vereinigte Staaten von Europa mit nur einem Bundesland Deutschland sind ja, verzeihen Sie die Ironie, wohl schwerlich denkbar.

Reinhold Michels führte das Interview.

(rem)
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