Hans-Dietrich Genscher † Dieser halbe Satz, der alles änderte

Düsseldorf · Hans-Dietrich Genscher war einer der Architekten der deutschen Wiedervereinigung. 1989 stand der damalige Bundesaußenminister auf dem Balkon der Prager Botschaft und verkündete die Ausreise für 4000 DDR-Flüchtlinge. Ohne diesen Tag hätte es die Wiedervereinigung wohl nie gegeben.

Es ist nur ein halber Satz aus dem Mund von Hans-Dietrich Genscher, der Geschichte schreibt: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…"

Weiter kommt der damalige Bundesaußenminister nicht. Der Rest geht in lautem "Ja"-Geschrei von über 4000 DDR-Flüchtlingen unter. Sie pfeifen, klatschen, kreischen und bejubeln die Nachricht, die eigentlich noch gar keine ist. Doch die wenigen Worte reichen, die Anwesenheit von Hans-Dietrich Genscher und dem damaligen Kanzleramtsminister Rudolf Seiters (CDU) bedeuten, dass die DDR-Bürger tatsächlich in die Bundesrepublik ausreisen dürfen.

"Genscher schon zu Lebzeiten politische Legende"
Infos

"Genscher schon zu Lebzeiten politische Legende"

Infos
Foto: qvist /Shutterstock.com/Retusche RPO

Flucht über die deutsche Botschaft

Es ist der Moment in seiner Karriere, der den langjährigen Außenminister, Vizekanzler und FDP-Politiker unsterblich machen wird. Pure Emotion, ein Gänsehautmoment der Geschichte, ähnlich dem am 9. November, als in Berlin die Mauer fällt. Genscher und Prag — später wird es scheinen, als ob dieser Politiker für diesen Auftritt geboren wurde.

Seit Anfang August 1989 suchen DDR-Bürger damals Zuflucht im barocken Palais Lobkowicz in Prag, dem Sitz der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland. Die DDR-Flüchtlinge können ohne Visum in die damalige Tschechoslowakei ausreisen. Über den Umweg der deutschen Botschaft möchten sie ihre Ausreise nach Westdeutschland erwirken. Die Mauer teilt das Land noch immer in Ost und West.

Zu Beginn sind es wenige Dutzend Menschen, drei Wochen später wird die Botschaft erstmals wegen Überfüllung geschlossen. Da halten sich 154 DDR-Bürger im Haus und im Garten auf. Bis Ende September werden es über 4000 Menschen. Sie kümmern sich nicht darum, dass die Botschaft geschlossen ist. Wer vorne nicht reinkommt, klettert hinter dem Haus über den Zaun in den Park.

"Genscher ist da!"

Dort warten sie am Abend des 30. September 1989 auf den Auftritt des Bundesaußenministers. Das Gebäude hat er zwar unbemerkt betreten können, wie er später in einem Interview anlässlich des 20. Jahrestages erzählen wird. Aber auf dem Weg in den Kuppelsaal, vorbei an zahllosen Betten und der überfüllten Treppe, bleibt er nicht unerkannt. Die Nachricht verbreitet sich: Genscher ist da — und damit die gute Kunde.

Genscher und sein Begleiter Seiters arbeiten schon seit Wochen an einer Lösung für die DDR-Flüchtlinge in der Prager Botschaft. Die SED-Führung weigert sich beharrlich, ihre Bürger in den Westen ausreisen zu lassen. Der Durchbruch gelingt schließlich in New York am Rande der UN-Vollversammlung, als Genscher mit seinem DDR-Amtskollegen Oskar Fischer verhandelt. Noch bis kurz vor Genschers Abflug aus New York am 29. September ist er nicht sicher, ob der Deal klappt.

Auf dem Weg nach Prag überlegt er, welche Worte er wählen soll. "Ich hatte mir vorgenommen, ganz nüchtern und schmucklos zu sprechen, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich wolle diese Mitteilung, bei der ich mir über die Reaktion der Flüchtlinge vor mir im Klaren war, triumphierend erscheinen zu lassen." Doch die Worte sind am Ende nicht wichtig, nur die Botschaft von der Freiheit für die Tausenden Menschen im Park. Im Schein einer von irgendwo herbei geschafften Stehlampe und durch ein Megafon spricht Genscher die Erlösung für die vielen aus.

DDR befindet sich in Auflösung

Die Videoaufnahmen eines einzelnen Kameramanns, der sich auf das Gelände schleichen konnte, werden zur Bildikone. Zwei Stunden später, gegen 21 Uhr, rollen die ersten Züge aus Prag nach Hof, über DDR-Territorium. Das hatte das Regime verlangt. Die DDR lässt verlauten: "Die Personen aus der DDR, die sich rechtswidrig in diesen Botschaften aufhielten, wurden in der vergangenen Nacht in die BRD ausgewiesen."

Der 30. September schreibt Geschichte, weil sich hier zum ersten Mal bildgewaltig dokumentieren lässt, dass sich die DDR in Auflösung befindet. Der Mauerfall am 9. November ist nicht ohne diesen Tag zu denken. "Ich denke, dass der 30. September den Beginn des Untergangs der DDR markiert", sagt der damalige Kanzleramtsminister Seiters später.

Erst 2014 verrät Genscher der "Bunten", dass er unter Herzrhythmusstörungen gelitten habe, als er auf dem Balkon der Prager Botschaft stand. Nun hat sein Herz ganz aufgehört zu schlagen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort