Die Partei im Laufe der Geschichte Grüner wird's nicht

Berlin · Keine Partei war in den vergangenen Jahrzehnten so erfolgreich wie die Grünen, ob bei Atomausstieg, Energiewende, Bio-Lebensmitteln, Homo-Ehe oder Frauenquote. Doch gesellschaftliche Dominanz birgt auch Gefahren. Eine Analyse.

 1985: Hessens Ministerpräsident Holger Börner (l., SPD) vereidigt Joschka Fischer als Umweltminister.

1985: Hessens Ministerpräsident Holger Börner (l., SPD) vereidigt Joschka Fischer als Umweltminister.

Foto: dpa

An geistigen Revolutionen ist Deutschland nicht eben arm. Die Reformation nahm vor 500 Jahren ihren Siegeslauf von Mitteleuropa aus auf, der deutsche Idealismus blühte zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Sozialismus und Kommunismus entstanden hierzulande, später die Sozialdemokratie. Und seit Mitte der 70er Jahre rollt die ökologische Bewegung die Gesellschaft auf. Sie mündete zunächst in die Gründung der Partei der Grünen, die anfangs als Spinner belächelt wurden, aber sich später zu einer der wirkmächtigsten politischen Gruppen in der Bundesrepublik entwickelten.

Die heutige Parteispitze: Cem Özdemir und Simone Peter.

Die heutige Parteispitze: Cem Özdemir und Simone Peter.

Foto: dpa, rje sab

Die Grünen stehen für die dritte Wende im demokratischen Nachkriegs-Deutschland. Tatsächlich bestimmten zunächst die Christdemokraten die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse — mit dem Konzept der sozialen Marktwirtschaft, dem Idealbild der Kleinfamilie mit klarer Arbeitsteilung zwischen berufstätigem Mann und der Frau im Haushalt, der Ideologie des Wohneigentums und der Renaissance des Christentums. Gemeinhin wird das als Ära des Altkanzlers Konrad Adenauer umschrieben.

Als Partei konnten sie kaum mehr als zehn Prozent auf sich vereinigen

Die nächsten politischen Sinngeber waren die Sozialdemokraten. Sie bauten die Sozial- und Teilhabegesellschaft bis in den kleinsten Winkel aus. Niemand sollte durch das soziale Netz fallen, alle sollten an der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung teilhaben. "Mehr Demokratie wagen", nannte es der sozialdemokratische Jahrhundertkanzler Willy Brandt. Doch schon unter seinem Nachfolger Helmut Schmidt bröckelte der gesellschaftlich-sozialdemokratische Konsens. Die Gleichung aus Wirtschaftswachstum und sozialer Teilhabe wurde von der ökologischen Bewegung infrage gestellt.

Was damals begann, ist der Siegeszug einer Gruppe, die als Partei kaum mehr als zehn Prozent auf sich vereinigen konnte. Aber Statistiker haben ausgerechnet, dass eine solche kritische Masse an Überzeugten die gesellschaftliche Diskussion bestimmen kann. Die Grünen sind ein Beispiel.

Als sie begannen, ein ernst zu nehmender politischer Spieler zu werden, bestand die Familie noch aus Vater, Mutter und Kindern, die Frauenerwerbstätigkeit der Bundesrepublik war die niedrigste unter den entwickelten Volkswirtschaften. Es gab kaum Ganztagsschulen, die Regierungsparteien CDU und CSU sträubten sich anzuerkennen, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei. Das hat sich alles nachhaltig geändert.

Die Grünen und das Ende der Atomenergie

Der größte politische Erfolg der Grünen war das Ende der Atomenergie in Deutschland — im Gegensatz zum Rest der Welt. Ausgerechnet eine bürgerliche Regierung aus CDU/CSU und FDP führte diese von den Grünen so hartnäckig geforderte Energiewende durch — nach dem Atomunfall im japanischen Fukushima im März 2011. Doch damit gaben sich die Grünen längst nicht zufrieden. Aus Klimaschutzgründen verlangten sie auch die langfristige Abschaltung aller Kohle- und Gaskraftwerke. Verzweifelt fragte damals der Chef des mächtigsten deutschen Energiekonzerns Eon, Wulf Bernotat: "Woher soll der Strom dann noch kommen?"

Mittlerweile ist es allgemeine Überzeugung, dass nur die regenerativen Energiequellen eine Zukunft haben. Konzerne wie Eon, RWE oder Vattenfall verloren dramatisch an Einfluss, Wind, Sonne und Biomasse gehört die Zukunft. Und als die Grünen kürzlich das Ende des Verbrennungsmotors bis 2030 forderten, ging kein Aufschrei durchs Land wie damals 1998, als sie den Benzinpreis auf fünf Mark hieven wollten.

War der Sieg der Grünen in der Energiewirtschaft total, so haben sie auch bei der ökologischen Erneuerung der Wirtschaft Maßstäbe gesetzt. Heutzutage wird die Umweltverträglichkeit jedes Produkts, jedes Vorhabens, jedes Baus bis ins Kleinste untersucht. Deutschland marschiert an der Spitze der Klimaschützer, sortiert wie kaum eine andere Nation seinen Müll und gibt gut fünf Prozent seines Lebensmittel-Budgets für Bio-Produkte aus. Gentechnik hat außer in der Medizin keine Chance in Deutschland, Großtechnologien wie die Magnetschwebebahn oder Giftgas-Pipelines sind hierzulande grandios gescheitert.

Einsatz für Minderheitenrechte

Im gesellschaftlichen Bereich haben die Grünen die Minderheitenrechte für Homosexuelle und die Frauenemanzipation zwar nicht erfunden, aber bedeutend vorangebracht. Dass Frauen und Männer sich die Hausarbeit teilen, Familie und Beruf vereinbar sein müssen, die Zahl der weiblichen Führungskräfte dramatisch steigen soll, haben vor allem die Grünen auf die Agenda gesetzt. Die Dominanz geht bis in die Sprache — das geschlechtsneutrale Studierende statt Studenten, Asylbewerber statt Asylanten, Inuit statt Eskimo.

Die Grünen haben große gesellschaftliche Änderungen durchgesetzt, manche Kritiker meinen, sie haben sich zu Tode gesiegt. Denn zum einen fehlt das mobilisierende Thema, zum anderen werden abweichende Meinungen vom aktuellen ökologisch-gesellschaftlichen Mainstream kaum noch geduldet. Wer den Klimaschutz anzweifelt, einer Homo-Ehe die volle rechtliche Gleichstellung verweigert oder eine Überfremdung Deutschlands fürchtet, findet sich im politischen Niemandsland wieder, schnell auch in der rechten Ecke.

Die "grünen Spinner" haben in vielem recht behalten, wie ein Industrieller einst seufzend bekannte. Wenn sie andere Meinungen zu sehr marginalisieren, laufen sie Gefahr, selbst auf Intoleranz und Unverständnis der sogenannten Wutbürger zu stoßen. Noch bestehen gute Chancen, dass auch nach der grünen Hegemonie die demokratische Entwicklung in Deutschland weitergeht, die Bürger hierzulande auf die großen Herausforderungen wie Migration, Digitalisierung, Überalterung und gesellschaftliche Vielfalt konstruktiv reagieren. Gesichert ist dieser Diskurs aber keineswegs.

(kes)
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