Biographie Als Gerhard Schröder das erste Mal ein Schlafmittel nahm

Berlin · Eine neue Biografie wirft ein neues Licht auf den SPD-Kanzler Gerhard Schröder. Heute stellt die Kanzlerin persönlich das vom Historiker Gregor Schöllgen verfasste Werk vor. Es erzählt vom denkwürdigen Macho-Auftritt in der Bonner Elefantenrunde, der Zeit, als Schröder litt wie ein Hund und warum Merkel größten Respekt vor ihm hatte.

Gerhard Schröder und Angela Merkel stellen Schröder-Biographie vor
9 Bilder

Schröder stellt Biographie vor: Merkel ist Gast

9 Bilder

Vor zehn Jahren war die Gerd-Show vorbei. Sie endete mit einer "testosteronen Explosion" in der Elefantenrunde. Schreibt Gregor Schöllgen. Der renommierte Historiker hat eine neue, die umfassendste Biografie über Gerhard Schröder vorgelegt.

Der Basta-Kanzler, der Putin-Versteher, der Agenda-Erfinder. Viele Etiketten sind dem Sozialdemokraten, der von 1998 bis 2005 die Republik Rot-Grün regierte, angeklebt worden.

Seine Zeit im Zentrum der Macht wurde oft und grell ausgeleuchtet.Das Licht fiel nicht überall hin. Die privaten Dokumente und Akten des Kanzleramtes blieben im Dunkeln, ebenso wichtige Etappen der Familiengeschichte. Diesen Schatz durfte Schöllgen, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Erlangen, nun heben.

Agenda 2010: Schröder versus Lafontaine
12 Bilder

Agenda 2010: Schröder versus Lafontaine

12 Bilder

Es ist ein sattes Werk (DVA-Verlag/München) geworden, über 1000 Seiten stark, im Grundton wohlwollend. Seit Montag liegt es in den Buchläden. Am Dienstag will es Angela Merkel höchstpersönlich in Berlin vorstellen - ihr Vorgänger wird dabei sitzen und vielleicht sein berühmtes Wolfslächeln zeigen. Wie war das noch mal, am Wahlabend 2005, als Schröders Karriere zu Bruch ging und Merkels Stern aufstieg?

Die Elefantenrunde: Schröders krawalliger Auftritt am Abend der Bundestagswahl 2005 hat längst einen festen Platz in der Politik- und TV-Historie. Offen stellte der SPD-Boss nach seinem fulminanten Endspurt den Sieg von Angela Merkel infrage, die ziemlich verdattert Schröders Ego-Nummer verfolgt. Hatte der Genosse einen sitzen?
Alkohol habe keine Rolle gespielt, dafür verbürgen sich im Buch Schröders Vertraute, die den Wahlabend mit ihm verbringen.

In jenem Moment habe sich der Frust über die gegen ihn geführte Kampagne, wie Schröder es sah, aus Medien, Teilen der SPD, WASG, PDS und Gewerkschaften Bahn gebrochen. Hätte er kühlen Kopf bewahrt, wäre vielleicht eine geteilte dritte Kanzlerschaft mit Merkel drin gewesen. Doch bei Schröder, der sich aus kleinen Verhältnissen hochkämpfen musste, kommt der "Bürgerschreck" durch, die Attitüde "Ihr könnt mich alle mal". Ihr SPD-Widersacher habe eben eine "bourgeoise Attitüde", aber keinen "klassischen bürgerlichen Kern", wie Merkel selbst es im Gespräch mit dem Biografen festhält. Respekt habe sie vor Schröder immer gehabt. Der sei einer der "besten Wahlkämpfer, die Europa gesehen hat".

Die SPD und die Agenda 2010: Das gewaltige Reformwerk bleibt - neben dem Heraushalten Deutschlands aus dem Irak-Krieg - Schröders Vermächtnis. In den wichtigen Momenten aber versäumt er es, seine Partei mitzunehmen, die SPD-Seele zu streicheln. War die Aufgabe des Parteivorsitzes (den Franz Müntefering übernimmt) am 6. Februar 2004 der Anfang vom Ende? Aus Sicht seiner Nachfolgerin, die Schröders Schritt für "blanken Irrsinn" hält, ist da was dran. "Niemals sollte es eine Trennung von Kanzlerschaft und Parteivorsitz geben", sagt Merkel im Gespräch mit Schröders Biograf. Wer den Vorsitz abgibt, "verliert die Demut vor der Partei".

Schröder tickt anders. Seit Ende 2002 ist ihm klar, dass er das tun muss, was er seit den Tagen als Juso-Chef am besten kann: Er geht volles Risiko. "Hier beginnt das, was als große Leistung in die Geschichtsbücher eingehen wird: In der Erkenntnis, dass ihn dieser Einsatz das Amt kosten kann, geht der Mann aufs Ganze, davon überzeugt, dass es für das Land, dem er dient, keine Alternative geben kann", schreibt Schöllgen. Als im Mai 2005 die NRW-Wahl in die Binsen geht, zieht Schröder das Ding mit "Münte" durch.

Neuwahlen. Ein Coup. "Franz, was ist? Schaffen wir das?", so das Archiv. Antwort des Sauerländers: "Ich bin nicht sicher." Bis Bundespräsident Horst Köhler nach acht Wochen zäher Prüfung einwilligt, leidet Schröder wie ein Hund. Ein Gefangener seiner Entscheidung sei er gewesen. Erstmals muss der Kanzler ein Schlafmittel nehmen, weil er nächtelang keine Ruhe findet. Die vorgezogene Bundestagswahl verliert er. Es ist vorbei.

Die größten Niederlagen der SPD
13 Bilder

Die größten Niederlagen der SPD

13 Bilder
Foto: dpa, Uwe Anspach

Aber wäre zehn Jahre nach dem Machtverlust die Zeit nicht reif für eine Aussöhnung zwischen Schröder und seinen Genossen? Ein Anfang wurde zu Schröders 70. Geburtstag vor zwei Jahren gemacht. Das Verhältnis bleibt getrübt. Weggefährten glauben, Schröder habe die SPD immer geliebt: "Aber er hat es ihr nie gezeigt." So findet sich im Aktenberg eine Antwort Schröders an Parteichef Sigmar Gabriel, der ihm eine Rede auf dem Parteitag im Januar 2014 in Berlin anbietet:

Alle täten wohl gut daran, noch ein wenig Zeit ins Land gehen zu lassen. "Die Verletzungen auf beiden Seiten sind noch nicht genügend überwunden", schreibt Schröder. "Unabhängig davon, kannst Du Dich auf meine Solidarität verlassen. Die Partei natürlich auch."

Ist Schröder verbittert? Hat er die Chance zum Elder Statesman verzockt? Ganz und gar nicht, meint Schöllgen. "Er ist mit sich im Reinen." Seine Stimme habe wieder Gewicht - umso mehr, je stärker die Deutschen das Bild vom "umsatzorientierten Unternehmer" vergessen. Nicht alle sehen das so. Der Sozialphilosoph Oskar Negt, Freund und Mentor des Altkanzlers, gibt zu bedenken: Schröder trage die Agenda wie einen "Stein, der in seiner Seele hängt".

Lafontaine: Ganz offen gibt Oskar Lafontaine nun zu, was ihn seit seinem überstürzten Rücktritt als SPD-Chef und Bundesfinanzminister im März 1999 antreibt - Rache! "Ich wollte Schröder stürzen", erzählt der Saarländer und spätere Linksparteichef, der die Agenda 2010 wie kein Zweiter bekämpft. Mit dem starken PDS-Ergebnis sei es Lafontaine 2005 gelungen, Schröder die Kanzlerschaft zu nehmen, sagt Gregor Gysi im Rückblick. Für Lafontaine war es ausgleichende Gerechtigkeit, letztlich ein 1:1. In der Wahlnacht sei die Rivalität von ihm abgefallen: "Jetzt war ich innerlich frei." Seitdem gibt es zwischen beiden kein Wort, keinen Handschlag, keine Geste.

Putin und das Geld: Neben dem Rauchen teurer Zigarren (Cohiba) und Fotoshootings im teuren Mantel (Brioni) hängt Schröder, dem "Genossen der Bosse", das Wort vom "lupenreinen Demokraten" ewig nach. Gemeint ist Putin. Gesagt hat es Schröder gar nicht. Nur die Frage von ARD-Talker Reinhold Beckmann bejaht. An der Antwort von damals sei nichts zu beanstanden, findet Biograf Schöllgen. Der Kanzler hätte vor laufender Kamera den Kreml-Chef kaum brüskieren können. Einen Aufschrei gibt es, als Schröder zwei Wochen nach dem Auszug aus dem Kanzleramt an die Spitze des Aufsichtsrates der Ostsee-Gas-Pipeline-Gesellschaft Nord Stream wechselt, wo die russische Gazprom das Sagen hat. Zu Unrecht, glaubt Schöllgen. Das sei niemals ein Dankeschön für politisches Goodwill des Kanzlers gewesen. Schröder sei anfangs gar kein Verfechter der Pipeline gewesen, habe sogar von den Finnen überzeugt werden müssen. Wie viel Schröder seitdem für den Job kassiert, bleibt offen: "(...) Schröder stellt sicher, dass die Honorierung im mittleren Bereich eines vergleichbaren deutschen Aufsichtsrates liegt."

Das Irak-Missverständnis: Der damalige US-Präsident George W. Bush glaubte nach einem Besuch Schröders am 31. Januar 2002 in Washington, der deutsche Kanzler unterstütze auch ein mögliches militärisches Vorgehen gegen Saddam Hussein. Bush schreibt das 2010 in seinen Memoiren. Schröder widersprach, der Texaner sage "nicht die Wahrheit".

Schöllgen hat nun die Aktenvermerke des Kanzleramtes dazu einsehen können. Es gab an jenem Tag sogar zwei Gespräche von Bush und Schröder. Eines im kleinen Kreis, ein anderes beim Abendessen im größeren Kreis. Die Akten ließen Raum für Interpretationen, "auf beiden Seiten". Bush kann den Kanzler durchaus so verstanden haben, dass der mit seinen Kriegsplänen gegen den Irak einverstanden ist.

Umgekehrt geht Schröder davon aus, dass es einen solchen Plan eben nicht gibt und man sich im Feld "theoretischer Debatten" bewegt. Am Ende ziehen die USA mit der Lüge von den angeblichen Massenvernichtungswaffen in den Krieg. Wäre im Irak am Ende doch eine "smoking gun" von Saddam Hussein gefunden worden, hätte er selbst zurücktreten müssen, glaubt Schröder.

Der unbekannte Vater: Über Schröders Vater Fritz (Jahrgang 1912) war wenig bekannt. Mit 21 wird der Hilfsarbeiter wegen schweren Diebstahls zum ersten Mal verurteilt. Fünf Jahre später steht er wieder vor dem Kadi: Mit einem Maler steigt er bei einem Fleischer ein, klaut ein paar Kleider. Die Quittung: Das Landgericht Magdeburg brummt ihm neun Monate Haft auf. Die Polizeifotos von 1938 zeigen viel Ähnlichkeit mit dem Sohn, der einmal Kanzler wird: "Augen blau, Haare dunkelbraun, Nase gradlinig", vermerkt das Protokoll. Am rechten Unterarm ist Schröders Vater tätowiert - eine Frauenbüste mit Blumenzweig. Im Frühjahr 2001 sieht der Kanzler zum ersten Mal ein Foto von ihm als Soldat der Wehrmacht - es steht seitdem auf seinem Schreibtisch im Kanzleramt. Fritz Schröder fällt am 4. Oktober 1944 an der rumänischen Front und wird in Ceanu Mare beerdigt. 40 Jahre später schaut Schröder erstmals auf das Grab seines Vaters.

Die harte Kindheit: Schröder wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Die Familie wohnt später in einer Bruchbude, von Schröder und seinen Geschwistern "Villa Wankenicht" genannt. Der Junge packt früh mit an: 50 Pfennig pro Stunde verdient er beim Rübenziehen und Kühemelken. Zwei Jahre nach dem Tod von Fritz heiratet Schröders Mutter Erika den zweiten Mann ihrer Schwiegermutter Klara - diese bleibt aber "Oma Schröder" für den kleinen Gerd, der als Kleinkind sächselt: "Eine abenteuerliche Konstellation, in die Gerhard Schröder da hineinwächst", schreibt der Biograf. Mit Stiefvater Paul Vosseler, "einem klugen und politischen Menschen", kommt er gut klar, Schläge gibt es keine. Die Mutter geht 14 bis 16 Stunden am Tag Putzen, ist trotz aller Härten für die Kinder die liebevolle "Löwin". Erika Vosseler stirbt am 6. November 2012 mit 99 Jahren.

Schröder und die Frauen: Viermal sagt Schröder Ja, dreimal geht es schief. Die dritte Frau an seiner Seite wird 1984 Hiltrud - "Hillu" - Hampel. Zweimal muss Schröder nach Hause rasen, weil er erst Sekt und dann die Weißgoldringe vergisst. Über Jahre sind die beiden das Traumpaar auf den TV-Sofas. Hillu gibt Rat und traut sich selbst jedes Ministeramt zu - bis die Firma Schröder 1996 Konkurs anmeldet. Sie schmeißt ihn raus, weil er eine Andere hat. "Der Preis, den Gerhard Schröder dafür zu zahlen hat, ist hoch", stellt Schöllgen fest. Die Scheidung wird für den Anwalt Schröder richtig teuer: "Weitgehend abgetragen wird der Berg erst mit Einnahmen, die Schröder nach Auszug aus dem Verkauf seiner Memoiren erzielt."

Wie erst 2014 bekannt wird, zahlt der Hannoveraner Unternehmer und Ex-AWD-Chef Carsten Maschmeyer für die Rechte zwei Millionen Euro inklusive Umsatzsteuer. Schröder heiratet die Andere. Doris Köpf, eine Journalistin, wird seine vierte Frau. Sie wird enge Beraterin, spielt bei der Agenda-2010-Schöpfung eine wichtige Rolle. Nach Schröders Abgang macht sie selbst Karriere, sitzt für die SPD in Niedersachsen im Landtag und ist Migrationsbeauftragte des Landes.

Daheim geht es Auf und Ab. Hält es der Ex-Kanzler und Machtmensch aus, "nur" Stullen zu streichen, Hausaufgaben mit den adoptierten Kindern zu machen und mit dem Hund Gassi zu gehen? Im März dieses Jahr wird in Großbuchstaben das Ehe-Aus verkündet - doch Doris und Gerd raufen sich zusammen. "Es war vom Start weg eine große Liebe, keine zweite Partnerin hat auf die beruflichen Entscheidungen so eingewirkt wie sie."

(dpa)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort