Gastbeitrag Die SPD muss wieder Fortschrittspartei werden

Düsseldorf · Die SPD steckt in einer schweren Krise. Aber so paradox das klingt, sind das eigentlich gute Zeiten für eine Rundumerneuerung. Die SPD muss ihr positives Verhältnis zum Fortschritt wiederentdecken und eine Vision für die digitale Gesellschaft entwickeln. Das ginge auch als Teil der großen Koalition. Ein Gastbeitrag.

 Eine Abstimmung auf einem SPD-Landesparteitag (Symbolfoto).

Eine Abstimmung auf einem SPD-Landesparteitag (Symbolfoto).

Foto: dpa, jew cul hpl fux

Der Countdown läuft: 463.723 Mitglieder entscheiden bis Anfang März darüber, ob die SPD sich erneut an einer Bundesregierung unter Führung von Angela Merkel beteiligt. Die Debatte in der Partei wird heftig, aber überwiegend sachlich und fair geführt. Die SPD tut gut daran, diese Energie und die Kompetenz ihrer Mitglieder auch nach dem Basisvotum zu nutzen. Denn unabhängig davon, wie es ausgeht: Die deutsche Sozialdemokratie bedarf dringend einer umfassenden Erneuerung.

Die Voraussetzungen dafür sind bestens, auch wenn das paradox klingt. Denn zu den großen Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft in einer sich rasant verändernden Welt steht, gehören elementare Fragen von Gerechtigkeit, Arbeit und Fortschritt. In diesen Bereichen hat die SPD ihren historischen Markenkern. Hier wird sie dringend gebraucht. Hier muss sie relevante Debatten anstoßen und neue Antworten geben.

Sie muss eine moderne Vision unserer Gesellschaft entwerfen. Das allerdings gelingt nur, wenn sie endlich ihre merkwürdige Verzagtheit abschüttelt und nicht nur dauernd klagt, sie schufte im Maschinenraum, während die anderen auf dem Sonnendeck flanierten. Sie muss sich an ihren Auftrag erinnern, das Leben der Menschen jeden Tag ein wenig besser zu machen.

Konkrete Antworten auf Abstiegsängste

Deutschland als Ganzes ist heute ökonomisch erfolgreich wie selten zuvor. Aber unter der glänzenden Oberfläche hat sich Rost festgefressen: Die Einkommen driften auseinander, mehr noch die Vermögen. Jedes fünfte Kind lebt in Armut oder ist von ihr bedroht, das Armutsrisiko für künftige Rentner liegt nur knapp darunter. Leiharbeit und Langzeitarbeitslosigkeit sind ungelöste Probleme. Dabei ist soziale Gerechtigkeit das Fundament unserer Gesellschaft. Nur, wenn alle darauf vertrauen können, dass sie auch in Zukunft ihren Platz in unserer Gesellschaft haben werden, können alle an einem Strang ziehen, den Wandel meistern — und unseren Wohlstand erhalten.

Doch das Vertrauen in den Staat ist in Teilen der Gesellschaft einem tiefen Misstrauen gewichen. Insbesondere die soziale Mittelschicht wird von Abstiegsängsten geplagt. Und mangels grundsätzlicher politischer Auseinandersetzung haben die Rechtspopulisten unnötig leichtes Spiel, diese Verunsicherung als kulturelles Problem zu inszenieren. Dabei haben die Ängste der Menschen zumeist einen ökonomischen Hintergrund und sind damit Sorgen, auf die die Politik Antworten geben kann.

Nicht zuletzt hat auch die Hartz-IV-Gesetzgebung zwar ihren Anteil an der ökonomischen Erfolgsgeschichte Deutschlands der vergangenen Jahre, aber eben auch an der Verunsicherung breiter Schichten der Bevölkerung. Diese Fehlentwicklungen muss gerade die SPD einräumen und korrigieren, indem sie endlich ein rationales Verhältnis zur Agenda 2010 entwickelt. Diese war eben nicht nur gut, sie war aber auch nicht nur schlecht. Vor allem aber war sie eine Agenda des letzten Jahrzehnts, sie ist keine Antwort mehr auf die Herausforderungen von morgen und gehört durch eine moderne Agenda ersetzt.

Nur die SPD kann die die Debatte wieder in das Feld lenken, in das sie gehört, und damit soziale Sicherheit garantieren, indem sie den Sorgen mit handfesten ökonomischen Antworten begegnet. Das gilt letztlich für alle Megatrends wie Migration, Demografie, Klimawandel oder Digitalisierung. Die SPD muss endlich wieder als Fortschrittspartei agieren, die sich traut, auf die großen Fragen der Zeit auch große Antworten zu geben.

Die SPD als Partei des Fortschritts

Am Beispiel der Digitalisierung wird das deutlich. Als Angela Merkel Bundeskanzlerin wurde, gab es noch keine Smartphones. 13 Jahre später sind sie omnipräsent. Die Digitalisierung lässt sich keine Zeit, sie kommt nicht allmählich, sondern bringt schnelle, plötzliche Veränderungen. Wir stehen am Anfang: Algorithmen, Big Data, das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz werden unseren Alltag, unser Zusammenleben und unsere Arbeitswelt radikal verändern.

Wir tun gut daran, diesen Wandel nicht als Bedrohung zu sehen, sondern als große Chance: Die Digitalisierung bietet das Potenzial, unseren Alltag angenehmer zu gestalten, körperlich schwere Arbeiten an Roboter abzugeben, Krankheiten durch künstliche Intelligenz zuverlässiger zu erkennen, individuelle Bildung zu ermöglichen oder den Straßenverkehr effizienter, sicherer und umweltfreundlicher zu machen.

Dabei wird sie den Arbeitsmarkt massiv verändern. Neue Jobs entstehen. Zwei Drittel der heutigen Grundschulkinder werden einmal in Berufen arbeiten, die es heute noch gar nicht gibt. Auch Jobs wie Systemadministrator, Social Media Manager oder App-Entwickler existieren erst seit relativ kurzer Zeit. Gleichzeitig werden vor allem gering qualifizierte Arbeitsplätze wegfallen und durch Maschinen ersetzt. Die Digitalisierung birgt das Risiko, die Kluft zwischen Arm und Reich noch zu vergrößern, wenn ein fortschrittlicher Staat dies nicht erkennt und dem entgegenwirkt. Digitalisierung und soziale Gerechtigkeit gehören deshalb untrennbar zusammen.

Die SPD als Partei der Arbeit muss diese Herausforderung annehmen und sie als Gestaltungsauftrag verstehen, statt nur die Risiken zu betonen. Die Weichen, die wir in den nächsten Jahren stellen, werden bestimmen, ob die Digitalisierung eine Erfolgsgeschichte für unsere gesamte Gesellschaft sein wird. Angesichts der großen Veränderungen können wir neu darüber nachdenken, wie wir uns unsere Gesellschaft eigentlich vorstellen und wie unser Zusammenleben in Zukunft funktionieren soll.

Visionen wagen

Die SPD kann und muss das Labor dieser Gedanken werden, die Plattform für neue Ideen, Visionen und Utopien. Wir müssen diskutieren, wie eine Gesellschaft aussehen soll, in der es durch die Digitalisierung möglicherweise weniger, sicher aber andere Arbeit gibt. Wir müssen verhindern, dass die Gewinne des Wandels privatisiert werden, während die Gesellschaft die Folgekosten tragen muss. Dass Wirtschaftsvertreter ein bedingungsloses Grundeinkommen zunehmend positiv bewerten, verwundert nicht. Doch welche Alternativen gibt es zu dieser "staatlichen Stilllegungsprämie"?

Der Regierende Bürgermeister Berlins Michael Müller hat ein solidarisches Grundeinkommen ins Spiel gebracht, das ehrenamtlich Aktive mit einem Grundeinkommen versorgt. Konsequent zu Ende gedacht läuft dies richtigerweise auf den kräftigen Ausbau des staatlichen Beschäftigungssektors hinaus. Die IG Metall macht zugleich mit ihrer Forderung nach einer 28-Stunden-Woche das große Feld der kürzeren Arbeitszeit auf, die mehr Raum für Familie, Ehrenamt und Freizeit lässt. Beide Gedanken sollten wir ernsthaft diskutieren, könnten sie uns doch mehr Zeit für das Wesentliche geben, unsere Gesellschaft entschleunigen und solidarischer machen — und sie damit insgesamt bereichern.

Wir werden die Berufe nicht schützen können, die wegfallen — wir können und müssen aber den Menschen ermöglichen, sich rechtzeitig fortzubilden und neu zu orientieren. Das ist die Verantwortung der Gesellschaft und nicht des Einzelnen. Aus- und Weiterbildung ist ein gesellschaftlicher Fortschritt, nicht nur ein individueller. Deshalb muss sie im Übrigen auch kostenfrei sein.

Auch ein echtes Fachkräfte-Zuwanderungsgesetz oder die Einführung einer Robotersteuer zur gerechten Verteilung der Digitalisierungsrendite sind notwendige Elemente einer Debatte. Insbesondere eine Robotersteuer gibt der SPD Gelegenheit, ihre wirtschaftspolitische Kompetenz zu beweisen. Denn sie darf sich nicht nur aufs Umverteilen beschränken, sondern muss Anreize zur Wertschöpfung setzen.

Konkrete Antworten geben

Teil der Antwort auf die Verunsicherung und objektive Ungerechtigkeit müssen handfeste ökonomische Lösungen sein. Schnell und entschlossen muss die SPD gegen Kinder- und Altersarmut vorgehen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse abbauen, für günstigen Wohnraum sorgen, Zukunftsinvestitionen in die kommunale Infrastruktur ermöglichen und unsere Schulen räumlich und personell bestmöglich ausstatten.

Langfristig müssen wir den Mut haben, alle Instrumente offen zu diskutieren. Viele Antworten werden nur auf europäischer Ebene funktionieren. Steuerschlupflöcher für große Konzerne müssen geschlossen werden. Dies wird kein Nationalstaat alleine schaffen. Europa muss gemeinsam den Weg zu einer Arbeits- und Sozialunion antreten.

Kann die SPD das Labor dieser Diskussionen sein — auch, wenn sie innerhalb einer großen Koalition in Regierungsverantwortung ist? Wer sollte sie daran hindern außer sie selbst, mit ihrem manchmal skurrilen Hang zur Selbstzerstörung? Die Antwort lautet: Es wird ihr unabhängig davon gelingen müssen. Der Wandel wird nicht warten. Dass die SPD sich dafür im Koalitionsvertrag genau die Schlüsselressorts gesichert hat, denen eine stattliche Agenda-Macht innewohnt, macht Hoffnung, wenn die künftigen Amtsinhaber auch entschlossen sind, diese zu nutzen. Aber natürlich kann der Koalitionsvertrag nicht das Maß der Dinge sein. Die SPD will mehr — sie muss es aber auch offensiv zeigen wollen.

Die SPD ist in der Pole-Position, um auf die soziale Ungleichheit, den Wandel der Arbeitswelt und die Digitalisierung die richtigen Antworten zu finden. Keine andere Partei wird das leisten können, denn keine andere Partei trägt diese Eigenschaften so tief in ihrer eigenen DNA. Aber dafür braucht sie Mut: Für einen offenen Prozess, für klare und kontroverse Positionen, für ein klares Einstehen für die eigenen Erfolge. Die Gelegenheit ist günstig. Denn die lebendige und aktive Debatte um die Große Koalition hat Schwung in die Partei gebracht. Die neuen offenen Formen der Diskussion eignen sich bestens, um die inhaltliche Neuorientierung zu schaffen. Und die vielen langjährigen und neuen Mitglieder mit ihrer Expertise sind ein Schatz, den es zu heben gilt.

Große Fragen brauchen große Antworten. Die SPD kann sie geben. Wir stehen damit vor einer Aufgabe von Godesberger Ausmaßen. Also: Nur Mut, Genossen!

Der Autor ist SPD-Politiker und Mitglied des Landtags in Nordrhein-Westfalen. Der 45-jährige Jurist aus Köln gilt als einer der möglichen Nachfolger des Fraktionsvorsitzenden Norbert Römer.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort