Forscher Stephan Grünewald "Die AfD kann die SPD überholen"

Köln · Wie erfolgreich werden Populisten bei der nächsten Landtags- und Bundestagswahl sein? Der Chef des Kölner Forschungsinstituts "Rheingold", Stephan Grünewald, sagt: Große Teile der Bevölkerung sehen sich als Außenseiter im eigenen Land.

Er hält es für möglich, dass die AfD die SPD bei der nächsten Bundestagswahl überholt.

Herr Grünewald, am vergangenen Wochenende ist die Verfassungsreform in Italien gescheitert, Donald Trump wird US-Präsident. Steht auch in Deutschland eine populistische Revolte bevor?

Grünewald Ich halte es für denkbar, dass die AfD bei der Bundestagswahl nur sehr knapp hinter der SPD landet oder sie sogar überholt. Der Grund ist, dass Teile der Bevölkerung sich insgesamt nicht ausreichend wertgeschätzt fühlen. Das zeigen seit Jahren Tiefeninterviews von uns. Diese Bürger fühlen sich fremd im eigenen Land und in ihren Gefühlen nicht angenommen. Das kann eine Partei aufgreifen, die den Menschen verspricht, gesehen zu werden und Macht und Stärke wiederzuerlangen. Trumps Erfolg bestärkt diesen Trend.

Wie wird die Landtagswahl im Mai ausgehen?

Grünewald Ich glaube, Hannelore Kraft profitiert insgesamt von ihrem Ruf als Landesmutter und als Kümmerin. Falls die Wahl also überwiegend als Landtagswahl gesehen wird, könnte das der SPD helfen und sie halbwegs stabilisieren. Je mehr Bürger aber diese Abstimmung als Möglichkeit sehen, es "denen da oben" so richtig zu zeigen, umso stärker wird die AfD. Dann wird die NRW-Wahl zur Protestwahl gegen Berlin und die Eliten, und die AfD landet bei 15 Prozent oder mehr.

Was hat sich im Weltbild der Bürger grundsätzlich geändert?

Grünewald Vor dem Fall der Mauer konnten die Menschen sich an den jeweiligen Weltbildern der Parteien gut orientieren - jetzt haben sich die programmatischen Orientierungen weitgehend aufgelöst. Viele Menschen empfinden aktuelle Politik nur noch als diffusen Brei. Doch weil sie eben weiterhin Orientierung brauchen, finden einfache Erklärungsmuster viel Anklang: Die Globalisierung ist an allem schuld. Wegen der Flüchtlinge hat der Staat weniger Geld für einfache Leute.

Deutschland ist eines der wohlhabendsten Länder der Welt.

Grünewald Aber große Teile der Bevölkerung sehen sich ökonomisch und kulturell als Außenseiter im eigenen Land. In den 70er Jahren war es auch bei vielen Akademikern Konsens, sich für die einfacheren Leute einzusetzen, jetzt dominiert die Abgrenzung: Wer kein Studium oder Abitur hat, ist fast schon Unterklasse, wer Privatfernsehen schaut, ebenfalls, in der "Heute-Show" werden alle Dummen, Rechten, Ostler, Nichtwähler abgewatscht. Das hat Ohnmachtsgefühle aufgebaut, die zur zeitweisen Wahlverweigerung führten und nun zur Protestwahl.

Die SPD nennt die Grünen als Wunschpartner.

Grünewald Um erfolgreich zu sein, muss die SPD sich zu ihren Kernwerten bekennen: Gerechtigkeit, Brüderlichkeit, gesellschaftlicher Aufbruch. Das bedeutet aber auch, sich klarer von den Grünen zu distanzieren. Die gelten oft als bevormundend und völlig abgehoben von kleinen Leuten.

Welche Rolle spielt die Flüchtlingsdiskussion?

Grünewald Bundeskanzlerin Merkel hatte lange Zeit viel Unterstützung, weil sie als Garant von Stabilität galt, für eine Welt der sicheren Gegenwart. Wenn sie ihre Hände als Raute hielt, war dies das Symbol der Umhegung Deutschlands, Mutter Merkel also. Doch mit der Öffnung der Grenze hat sich ihr Bild völlig verändert: Statt als Schutzheilige der heimischen Bevölkerung wird sie auf einmal als Willkommensengel für Zuwanderer gesehen. Manche Menschen sind tief gekränkt. Sie fragen sich, wen Mutter Merkel eigentlich mehr liebt - die eigenen oder die fremden Kinder.

Nun tritt Merkel erneut als Kandidatin an. Was muss sie ändern?

Grünewald Ihre Aussage "Wir schaffen das" war viel zu diffus und darum nicht gemeinschaftsstiftend. Die Menschen wollen wissen, was genau geschafft werden soll und wo und wie sie mitwirken können. Also muss die Kanzlerin ihre Politik besser erklären und sehr viel deutlicher sagen, wie es weitergeht. Und sie muss auch nachträglich erläutern, warum die Öffnung der Grenzen zeitweise vielleicht unvermeidbar war, aber dass sich die Flüchtlingspolitik nun ja auch massiv ändert.

Die Kanzlerin hat ihre neue Kandidatur ohne jede Programmatik verkündet. Schlau?

Grünewald Nein, sie muss nacharbeiten. Die Parteien müssen den Menschen sagen, wo die Reise hingehen soll. Sie sollten Visionen entwerfen, Pläne erläutern und dann die Menschen dafür begeistern. So lässt sich auch dem Gefühl vieler Menschen begegnen, die sich als heimatlos, wirkungslos und bedeutungslos erleben. Wenn die Menschen keine Vision von einer Zukunft haben, ist die Gefahr groß, dass sie ihr Heil in einer Rolle rückwärts, in einer vermeintlich besseren Vergangenheit suchen.

Welche Rolle hatten die Silvesterereignisse in Köln?

Grünewald Einerseits haben die massenhaften Straftaten die Befürchtung vieler Gegner der Flüchtlingspolitik bestätigt, dass da nicht Opfer, sondern potenzielle Täter ins Land kommen. Diese Befürchtung gründet sich auch darin, dass eine eher risikoscheue Gesellschaft mit einer Vollkasko-Mentalität auf einmal auf Flüchtlinge trifft, die bereit sind, todesmutig unermessliche Risiken auf sich zu nehmen, um ihre Lebensverhältnisse zu verbessern.

Und andererseits?

Grünewald Die Bevölkerung und die Parteien sind längst nicht mehr so gespalten über die Flüchtlingspolitik, wie vorher. Selbst die euphorischsten Willkommensromantiker müssen sich jetzt eingestehen, dass die Integration eine riesige Herausforderung ist. Es wird inzwischen realistischer über die Aufgaben diskutiert, die es zu meistern gilt: innere Sicherheit, Wohnungsbau, Bildung.

Wie sehen Sie als Psychologe die aktuelle Rentendebatte?

Grünewald Für große Teile der Bevölkerung ist der Gedanke, im Alter zum Sozialamt gehen zu müssen, zutiefst demütigend. Sie wollen ihre Lebensleistung anerkannt wissen. Immerhin habe es auch genug Geld gegeben, um den Banken zu helfen und sich nun um Zuwanderer zu kümmern. Angesichts dieser Stimmung ist unvermeidbar, dass die Politik den Menschen langfristige Garantien für ihr Alter geben muss. Sonst fühlen sie sich alleingelassen von der Politik.

Und wie finden Sie es, dass die Grünen nun eine Vermögenssteuer für Reiche fordern?

Grünewald Ein richtiger Schritt, denn die Grünen haben lange zu ausschließlich eine ökologische Vernunft-Askese gepredigt. Ich glaube, der Einsatz für einen gesellschaftlichen Klimawandel in Sachen sozialer Gerechtigkeit könnte in Deutschland viele Anhänger haben.

REINHARD KOWALEWSKY FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(RP)
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