Analyse Union benimmt sich wie die SPD

Berlin · Die Flüchtlingskrise stellt die Union insgesamt auf eine harte Probe.

Angela Merkel im Interview: "Was nun, Frau Merkel?"
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"Was nun, Frau Merkel?"

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Möglicherweise war es der nahende CSU-Parteitag, der Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) an die Berge hat denken lassen und ihn zur Metapher mit der Lawine bewogen hat. In Bayern jedenfalls wird man sich über den Vergleich und die damit verbundene scharfe Kritik an der Kanzlerin gefreut haben.

"Lawinen kann man auslösen, wenn irgendein etwas unvorsichtiger Skifahrer an den Hang geht", hatte Schäuble erklärt. Mit dem unvorsichtigen Skifahrer meinte er ganz offensichtlich die Kanzlerin, die sich im wahren Leben allenfalls Langlaufski umschnallt, mit denen man eigentlich keine Lawinen in Gang setzt.

Schäuble beließ es nicht beim Bild der Lawine, sondern fügte noch hinzu, dass er nicht wisse, ob die Lawine schon im Tal sei oder noch im oberen Drittel stecke. Schäuble ist der Mann mit der höchsten Autorität in der Partei. Für diejenigen, die die CDU auch künftig mit den Attributen "Recht und Ordnung" verbunden haben wollen, ist er in eine Schlüsselrolle gerückt. Er ist zum Hoffnungsträger für jene Parteimitglieder geworden, die es nicht akzeptieren, dass die Regierung derzeit nicht weiß, wie viele Flüchtlinge im Land leben und wie viele in den nächsten Monaten und Jahren noch kommen werden. Anfang September war Merkel, die harte Euro-Retterin, plötzlich das menschliche Antlitz Europas. Sie hatte Anfang September Tausende in Ungarn festsitzende Flüchtlinge nach Deutschland einreisen lassen. Seitdem ist der Zustrom nicht mehr abgerissen. Je länger er andauert, desto tiefer wird der Graben in der CDU zwischen jenen, die Merkels humanitäre und europäisch begründete Flüchtlingspolitik richtig finden und jenen, die die Kanzlerin dafür in der Verantwortung sehen, dass seit Anfang September die täglichen Flüchtlingszahlen anhaltend hoch sind.

Die CDU bietet zurzeit ein Bild, das man sonst eher von der SPD gewöhnt ist: Öffentliche Meinungskämpfe, Kommunikationspannen, Putschgerüchte. Mit seiner Lawinen-Bemerkung hat sich Schäuble endgültig auf die Seite der Kritiker geschlagen. Nun herrscht Lawinengefahr in der Union. Denn wenn der loyale Schäuble das Feuer auf die Kanzlerin eröffnet, könnten viele nachziehen. Prominente Unterstützer ihrer Politik sind weiterhin ihr Kanzleramtsminister Peter Altmaier, Unionsfraktionschef Volker Kauder und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen.

Unter dem Druck ihrer Basis, der Fraktion und ihrer einflussreichen Minister hat auch die Kanzlerin begonnen einzulenken. Noch vor knapp zwei Monaten verteidigte sie ihre Flüchtlingspolitik mit einem ihr sonst fremden Pathos. "Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land", sagte sie am 20. September, als der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann zu Gast war.

In der kommenden Woche wird Faymann abermals ins Kanzleramt nach Berlin kommen. Aber die Situation hat sich geändert. In den Fraktionssitzungen der vergangenen Wochen war sie offen kritisiert worden. In der vergangenen Woche hatte ein führender Abgeordneter von ihr verlangt, sie solle sich öffentlich dazu bekennen, den Flüchtlingszustrom zu begrenzen. Merkel fragte zurück, wie sie das machen solle und erhielt als Antwort: "Sie sind die Bundeskanzlerin." Immer mehr einflussreiche Politiker in der Union sind entschlossen, Merkel auf den Weg der Begrenzung zu zwingen.

Wie keine andere politische Gruppierung ist die Unionsfraktion über Direktmandate mit der Basis verknüpft. Ihre politische Existenz verdankt die übergroße Mehrheit bei CDU und CSU nicht ausgeklüngelten Landeslisten sondern der Basisentscheidung vor Ort. Viele Wahlkreise gewinnt die CDU regelmäßig haushoch. Aber eine ganze Reihe von Abgeordneten verdanken ihren Job in Berlin einem knappen Vorsprung vor dem Zweitplatzierten. Wenn AFD, FDP, Grüne und Linke als Reaktion auf die permanenten Chaos-Tage der Union überall zulegen, gerät die Wiederwahl-Perspektive großer Teile der Unionsfraktion in Gefahr.

Damit hat sich das Grundgefühl gegenüber der Kanzlerin verkehrt: Dank Merkel sind viele Abgeordnete in den Bundestag gekommen. Wegen ihr drohen sie 2017 wieder rauszufliegen. Den Merkel-Kritikern in der Union geht es aber nicht nur um die eigene Haut. Vielfach teilen sie schlicht die Sorgen ihrer Wähler, dass Deutschland mit dem erheblichen Zustrom der Flüchtlinge überfordert sein könnte.

Die teils aggressive Stimmung im Land gegen die Flüchtlingspolitik und die wachsenden Umfragewerte der AfD machen insbesondere die Politiker der Union nervös. Aus Sicht der Basis ist jetzt vor allem eines wichtig: ein klares Signal, dass Merkel verstanden hat und von offenen Armen auf begrenzende Schritte umsteuert. Doch damit würde Merkel Fehler eingestehen und ihre eigene Überzeugung in Frage stellen. Also schwelt der Interessenkonflikt zwischen CDU-Chefin und einer wachsenden Zahl an CDU-Mitgliedern weiter.

Faktisch hat die Kanzlerin längst umgesteuert. In dieser Woche stellte sie sich gleich in zwei wichtigen inhaltlichen Fragen hinter ihren Innenminister: Bei der Begrenzung des Familiennachzugs für Syrer und auch bei dem Bestreben, die Dublin-Regeln der EU wieder einzuhalten. Danach müssen Flüchtlinge in den Ländern registriert werden, in denen sie erstmals europäischen Boden betreten.

Entscheidend für Merkel wird auch der CSU-Parteitag werden. Am Freitag muss sie buchstäblich in der Höhle des Löwen reden. Weder sie noch Seehofer haben ein Interesse daran, dass sich die Union durch Buh-Rufe gegen die Kanzlerin weiter destabilisiert. Dafür war ihr ZDF-Interview gestern nützlich.

(RP)
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